Theresa Schütz hat sich im Rahmen der Publikation "Perspektive Erdgeschoß" mit leerstehenden Erdgeschoßen auseinandergesetzt.

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Zwischennutzungen in Erdgeschoßen sind vor allem für kreativwirtschaftliche Projekte interessant.

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Schütz plädiert für eine stärkere sozio-kulturelle Nutzung von leerstehenden Erdgeschoßzonen.

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Anfang 2011 hat die Stadt Wien dem Fachbereich "Örtliche Raumplanung" der TU Wien den Auftrag gegeben, ein Strategiekonzept für Erdgeschoße im Hinblick auf Leerstand zu entwickeln. Das Ergebnis nach einer Reihe von Workshops, Vor-Ort-Studien und Expertisen zu rechtlichen und immobilienwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist die Publikation "Perspektive Erdgeschoß".

Darin werden unterschiedliche Erfahrungen und Erwartungshaltungen zu Zukunftsfragen in der Entwicklung von Erdgeschoßen versammelt. Es werden aber auch konkrete Orientierungslinien und Expertenwissen für den Umgang mit derart leerstehenden Flächen der Öffentlichkeit offen dargelegt. Theresa Schütz war maßgeblich an diesem Prozess beteiligt. Im derStandard.at-Interview erklärt sie warum durch die Nutzung der Erdgeschoßzone manche Stadtteile bei Versorgungsqualität und mit sozio-kultureller Vielfalt punkten, während wo anders lieber im Parterre gewohnt wird.

derStandard.at: Welche Bedeutung hat die Erdgeschoßzone für eine Stadt?

Schütz: Sie ist vor allem im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum und dem Straßenraum zu sehen. Jener Raum, wo noch nicht alles vorprogrammiert ist und man die Möglichkeit hat, auf Fremde mit unterschiedlichen Einstellungen zu treffen. Ein Ort des Austauschs, wo es Handel, aber auch Kommunikation gibt, nicht nur in Kaffeehäusern, sondern auch im Stiegenhaus oder beim Friseur.

Hier werden soziale Kontakte ermöglicht, die sonst im öffentlichen Raum nicht stattfinden. Durch die Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums wird das immer weniger und darum umso wichtiger.

derStandard.at: Wie wirkt sich das auf die unmittelbare Umgebung aus?

Schütz: Eine Erdgeschoßzone ist so etwas wie die Visitenkarte eines Gebiets. Sie sagt aber nicht nur etwas über den Reichtum der Bewohnerschaft eines Viertels aus. An der Nutzungsart und -vielfalt werden der städtische Alltag und Charakter eines Milieus sichtbar. Zudem lässt sich auch die soziale und kulturelle Verantwortung ablesen, die Bewohner für ihre Wohnumgebung oder Eigentümer für ihre Häuser übernehmen.

Wenn die Erdgeschoßzone komplett abgewirtschaftet ist und ewig leer steht, weil sich kein neuer Mieter findet oder kein Eigentümer darum kümmert, wirkt sich das auch negativ auf den Charme und die Qualität eines ganzen Straßenzuges aus.

derStandard.at: Woher rührt der Leerstand im Erdgeschoß?

Schütz: Die Gründe liegen vor allem in der Veränderung der Gesellschaft und ihren Arbeitsformen. Die Erdgeschoßzone kann den sich rasant wandelnden Ansprüchen und differenzierten Lebenskonzepten einer Wissens- und Netzwerkgesellschaft weder als Raumstruktur noch als Mietobjekt nachkommen.

Daher sucht sich die arbeitende Stadtgesellschaft, die hauptsächlich auf Dienstleistungen im Wissenssektor ausgelegt ist, oft andere Plätze: Statt schlecht belichteter unbeheizter Souterrains, die einst kleinen Handwerksbetrieben als Werkstätten gedient haben, wird lieber ein helles, gut ans öffentliche Verkehrsnetz angeschlossene Bürohaus oder die repräsentative Wohnung im Dachgeschoß weit über dem Parterre gewählt.

derStandard.at: Was hat sich noch geändert?

Schütz: Es fehlt heute die Möglichkeit, als Schuster oder Schneider gegen einen Kleiderhändler zu konkurrieren, der mit global wirksamen Werbekonzepten und Produkten aus Billiglohnländern arbeitet. Nur einige wenige Kleinbetriebe und -händler in den Haupteinkaufsstraßen schaffen das - und das nur mit einem ausgeklügelten Marketingkonzept, mit hervorragenden Kontakten in eine kauffreudige und -kräftige Klientel und mit einem Netzwerk, das nicht jeder zur Verfügung hat. Nur so kann ein kleiner Greisler gegen einen Billa kämpfen.

Gleichzeitig findet eine räumlich Zentralisierung statt, sodass es dichter und besser versorgte Bereiche gibt und genau das Gegenteil davon. Wir erleben das tagtäglich ebenso in den Arbeits- und Mobilitätsstrukturen - daher sind die Erdgeschoßzonen auch ein Spiegelbild unserer Zeit.

derStandard.at: Warum funktioniert es in manchen Gegenden trotzdem?

Schütz: Es funktioniert aus der Not heraus. Menschen kommen hier an und müssen sich eine Existenz aufbauen. Aus abgewirtschafteten und toten Erdgeschoßzonen werden, sofern es doch noch leere Lokale billig zu mieten gibt, spezialisierte und durchmischte Nachbarschaften.

Das gilt für folgende Bereiche: Die hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund adaptierten Einzelhandelsstrukturen. Die von Künstlern und sozialen und kulturellen Initiativen um- und neugenutzten Ateliers. Und für Vereinslokale, Werkstätten und auch das Gastgewerbe. Alle diese Bereiche sind vielleicht deswegen so gut untereinander vernetzt und helfen sich gegenseitig, weil sie den sozialen Mehrwert erkannt haben, der sich durch den öffentlichen Austausch für das gesamte Wohnviertel ergibt. So werden aus verwahrlosten Straßen wieder lebendige.

derStandard.at: Welche Unterschiede bestehen zwischen Neubau und Gründerbauten?

Schütz: Die größten Fehler in den Neubaugebieten, beziehungsweise Gebieten in Planung, passieren, wenn man nach wie vor autogerechte und funktionsgetrennte Städte konzipiert. Dann werden Abstandsflächen zwischen Gebäuden als Erschließungsräume definiert und so fehlt in den daraus hervorgehenden Schlafstädten oder Businessdistricts die notwendige kritische Masse im öffentlichen Raum, damit eine Erdgeschoßnutzung überhaupt Fuß fassen kann.

Oder es werden Erdgeschoßzonen als Funktionsbereiche und Garageneinfahrten unter den ertragreichen Nutzflächen in den Obergeschoßen mit Mindestgeschoßhöhen gebaut. Das bedeutet von Vornherein ein Ausschlusskriterium für eine Werkstatt, einen kleinen Betrieb oder einen Veranstaltungsraum.

derStandard.at: Und bei Gründerbauten?

Schütz: In gründerzeitlichen Gebieten sind es zu hoch angesetzte Mieterwartungen von Hauseigentümern und Immobilienverwaltungen. Die Immobilienentwicklung fokussiert den kurzfristig abschöpfbaren Ertrag bei schnellem Wiederverkauf und nicht den längerfristig anhaltenden Mehrwert durch eine genutzte und gepflegte Erdgeschoßzone, die sich positiv auf die Liegenschaft über die attraktivierte Umgebung auswirkt. Das zusammen macht es unmöglich, dass dort sozio-kulturelle und neue Nutzungen aufkommen.

derStandard.at: Was lässt sich bei Neubauten generell verbessern?

Schütz: Bei großen städtebaulichen Projekten werden die einzelnen Bereiche auf verschiedene Bauträger aufgeteilt. Es wird aber nicht untereinander abgesprochen, welche Nutzungen im Erdgeschoß geplant sind. Aber genau dort findet das Andocken an den öffentlichen Raum statt. Die Folgen sind Unterversorgung auf der einen Seite und fünf Kindergärten in jedem Neubau auf der anderen.

derStandard.at: Wie lässt sich so etwas lösen?

Schütz: Es bräuchte ein dialogorientiertes Verfahren für den Austausch zwischen den einzelnen Bauträgern sowie offene und partizipative Plattformen, wo potenzielle zukünftige Nutzerinteressen eingebunden werden können. Beziehungsweise bräuchte es verbindliche Regeln, um diesen generellen Garagen- und monofunktionalen Wohnbau zu verhindern. Zum Beispiel eine Mindesträumhöhe im Erdgeschoß von drei Metern, um Flexibilität und Variabilität in der Raumnutzung sicherzustellen.

derStandard.at: Welche wesentlichen Erkenntnisse brachte die Auseinandersetzung mit Leerstand?

Schütz: Wir haben erkannt, dass die vielen unterschiedlichen Förderinstitutionen nicht oder kaum aufeinander abgestimmt sind. Es fehlt eine Drehscheibe, wo die bestehenden Förderungsinstitutionen der Wirtschaftskammer und der Wirtschaftsagentur, aber auch der MA 7, also der Kultur, andocken können, und wodurch auch umfassendere Fördersummen und Beratungsangebote möglich werden würden.

Mit diesen gebündelten Geldern sollten auch soziokulturelles Engagement und gemeinnützige Räume gefördert werden. Und nicht nur ökonomische, kreative und reine Wohnnutzungen oder für die Immobilienwirtschaft interessante.

derStandard.at: Wurden die Empfehlungen umgesetzt?

Schütz: Unser Ziel war eine Plattform zu schaffen, um der Bevölkerung Know-how und Unterstützung zu geben, damit sie ihre Nutzungsidee für Erdgeschoße aktiv und sichtbar in der Stadt wirken lassen können. Eine Stelle für Ratschläge, wie man eine kleine Organisation oder ein Unternehmen auf die Beine stellt. Oder wie Projekte untereinander vernetzt, ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit kommuniziert und damit ein generelles Umdenken in der Gesellschaft über neue Nutzungsformen der Erdgeschoße eingeleitet werden. Noch haben wir keine Rückmeldungen von der Stadt Wien, inwiefern unsere Empfehlungen umgesetzt werden.

Leider ist mir klar geworden, dass man diese soziokulturelle Ebene als qualitativen Mehrwert und als Notwendigkeit in einer Stadt kaum ernst nimmt, sondern erst und nur dann, wenn sie mit einem wirtschaftlichen Profit in Zusammenhang gebracht werden kann.

derStandard.at: Welches Potenzial haben Erdgeschoßzonen in Wien?

Schütz: Man muss Leerstand als wertvolle Ressource verstehen lernen, mit der man verantwortlich umzugehen hat. Immobilienentwicklern und Verwaltern muss klar sein, dass Nachnutzung in kultureller oder sozialer Form nicht immer nur alternativ, unerwünscht oder gefährlich ist. Im Gegenteil: Da werden Räume recycled,  neue urbane Lebensformen kreiert und mit wenig Budget und viel Engagement ein sozialer Mehrwert geschaffen, der länger hält als eine frisch verputzte Fassade leuchten kann.

derStandard.at: Welcher Eigentümer stimmt da zu?

Schütz: Auch für den Eigentümer hat das Vorteile: Das Haus verfällt nicht und im oberen Geschoß ist der Fußboden nicht kalt. Dafür hat man eine Gasse, wo tags- und nachtsüber was los ist. In der Nacht muss man sich nicht fürchten, weil Licht vorhanden ist, wenn man den Gehsteig entlang geht. Auch da gehört der Fokus von den wirtschaftlichen auf den qualitativen Mehrwert.

Dafür braucht es aber eine kleine Revolte und Mut von allen Personen. Wir müssen uns trauen, mehr zuzulassen, damit auch Neues entstehen kann.

derStandard.at: Welche Risiken gibt es bei Zwischennutzungen in Erdgeschoßen?

Schütz: Für eine kreative Gemeinschaft kann das bedeuten, dass der wirtschaftliche und soziale Mehrwert dann von einer stärkeren immobilienwirtschaftlichen Gruppe abgeschöpft wird - und nicht von denen und für jene, die sich engagiert haben. Wir brauchen ein Leerstandsmanagement und nicht nur eine Agentur, die eine weitere zeitliche Ressource locker macht.

derStandard.at: Wie hoch ist der Anteil von leerstehenden Erdgeschoßen in Wien im Moment?

Schütz: Wir haben nicht plötzlich übermäßigen Leerstand. In manchen Gebieten findet eine Zentralisierung von kleinen Einzelhandelsstrukturen im hochpreisigen Greislersegment statt, in anderen Teilen eine Ausdünnung dieser Strukturen.

Der krasse Unterschied zeigt sich zwischen teuren Lagen mit hoher Fußgängerfrequenz wie im siebten Bezirk gegenüber ewig langen Einfallstraßen ohne Fußgänger, aber mit umso mehr Autoverkehr.

derStandard.at: Wo wird das in Wien besonders sichtbar?

Schütz: Den Unterschied sieht man deutlich in der Ottakringer Straße: Der Bereich, in dem man ja auch von Gentrifizierung durch SOHO spricht, ist sehr belebt. Aber dort hat man nicht nur durch dieses kulturelle und kreativwirtschaftliche Zutun mehr kleinen Einzelhandel geschaffen. Dort gibt es auch viele Wohnungen und eine hohe Bevölkerungsdichte, die lokal versorgt werden muss.

Am äußeren Rand, oberhalb der Ottakringer Brauerei, oder in der Triesterstraße in Favoriten brechen diese kleinteiligen Strukturen weg.

Ganz schlimm empfinde ich Neubauten, wo von Vornherein die Erdgeschoßzone entweder rein für das Wohnen konzipiert wird und eine ewig lange homogene Fassade von Garagentoren und Vorhängen oder zugezogenen Rollos den Straßenraum säumt.

derStandard.at: Wieso kann man die Erdgeschoßzonen nicht dem freien Markt überlassen?

Schütz: Der freie Markt stellt wirtschaftliche Interessen vor die qualitativen und sozialen, also genau das Gegenteil von dem, was notwendig ist, damit eine Erdgeschoßzone im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum funktioniert.

derStandard.at: Was müsste sich politisch ändern, um Erdgeschoßzonen besser nutzen zu können?

Schütz: Momentan findet eine Deregulierung statt, beziehungsweise gibt es vermehrt eine Zusammenarbeit der Stadt mit privaten Investoren bei der Konzeption von Neubaugebieten. Im Gründerzeitbau zeigt sich die Deregulierung vor allem darin, dass man viel Geld für Stadtmarketing, also Oberflächenbehandlung, ausgibt und wenig für Gebietsbetreuungen oder andere lokal aktive Akteure.

Außerdem sind keine rechtlichen Kriterien festgelegt, wie man mit den Erdgeschoßzonen umgeht. Denkbar wäre zum Beispiel eine Leerstandsabgabe, wenn spekulativ gehandelt wird. Einiges, was jetzt im Stadtentwicklungsplan als unverbindliche Leitlinien für öffentliche Räume vorgeschlagen wird, muss über rechtliche Rahmengerüste konkret gemacht werden. Das gibt auch den Eigentümern eine Perspektive und klare Zielvorgaben.

derStandard.at: Hätte das auch ökonomische Vorteile?

Schütz: Man kann auch über Vorzeigeprojekte ein Umdenken in der Marktwirtschaft bewirken. Die Marktwirtschaft ist ja nicht der per se der Teufel. Auch da gibt es innovative Menschen und sozial verantwortlich agierende Leute, aber die müssen einen Anreiz bekommen mitaufzuspringen. Damit sie sich nicht in den Schatten derer stellen müssen, die nur nach reinen Profitinteressen vorgehen. (Elisabeth Mittendorfer, derStandard.at, 29.11.2012)