Kurator Thomas Edlinger sieht im Bart eine Möglichkeit des Selbstausdrucks.

Foto: Ingo pertramer

Der Londoner Fotograf Jonathan Daniel Pryce fotografierte für sein Projekt "100 Beards, 100 Days" täglich einen Bartträger. Das Ergebnis ist nun in einem Bildband versammelt.

Foto: johnathan daniel pryce

Die Bart erlebt ein Revival - zumindest in der Populärkultur. Derzeit widmet das Linzer Kunstmuseum Lentos dem sekundären Geschlechtsmerkmal eine eigene Ausstellung. derStandard.at hat Kurator Thomas Edlinger über den "Bart als Zeichen" befragt. 

derStandard.at: Bei der Betrachtung aktueller Kampagnen von Mode- und Kosmetikunternehmen fällt auf, dass der Männerbart quasi zum fixen Bestandteil vieler Sujets zählt. Wie lässt sich diese Renaissance der männlichen Gesichtsbehaarung erklären?

Edlinger: Bartmoden leben natürlich wie alle Moden von der wechselvollen Abfolge. Momentan befinden wir uns sicherlich in einer Phase, in der wieder mehr Bart angesagt ist. Das hat aber weitergehende Gründe als nur die banale Abfolge von Moden - so wie Röcke mal länger, mal kürzer sind. Der Körper ist in den vergangenen Jahren vermehrt zu einer kulturellen Ausdrucksfläche von Individualität geworden, was nicht nur am Bart, sondern auch an der Verbreitung von Tattoos abzulesen ist. Bärte markieren heute allerdings nicht mehr so stark einen gesellschaftlichen Status oder einen gesellschaftlichen Rang wie früher.

Da sich der Bart von seiner ursprünglichen Semantik ein wenig gelöst hat, gibt es auch verschiedene, ironische Arten den Bart zu rehabilitieren. Das heißt, es ist nicht mehr eindeutig auszumachen, ob es sich dabei um Neo-Machos oder eher "weiche" Typen handelt, die einen Vollbart tragen.

derStandard.at: Historisch gesehen hatte der Bart auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung, mit dem der Sitz der Macht markiert wurde - etwa durch den langen Bart eines Gelehrten. Wofür steht der Bart heute noch?

Edlinger: Einerseits ist er nach wie vor ein stark sexualisiertes Zeichen. Selbst in parodistischen Varianten - wie des queeren, schwulen Vollbarts - ist diese Referenz, dass es sich dabei um ein Macho-Zeichen handelt, noch immer eingelagert. Andererseits gibt es heute auch eine Verbindung zur ökologischen Sichtweise, die sich auch in der Bartmode manifestiert.

Viele Bartträger - auch wenn sie das selber nicht so formulieren würden - wollen eine Art Verbundenheit mit dem Natürlichen, dem Ungebärdigen oder dem Rebellischen signalisieren, obgleich das gar nicht mit einer tatsächlich rebellischen Position einhergehen muss.

derStandard.at: Ist der Männerbart auch ein Gradmesser für gesellschaftspolitische Veränderung - etwa im Sinne nachhaltiger, fair gehandelter und produzierter Nahrung, aber auch Mode?

Edlinger: Es gibt sicherlich Bartträger, bei denen durch andere Zeichen wie zum Beispiel die Kleidung dieser Schluss möglich ist. Ich denke aber, dass über den Bart alleine keine Kausalbeziehung hergestellt werden kann, da er auch etwas tatsächlich Modisches ist, dessen Bedeutung an sich keine Substanz hat. Das lässt sich in der Arbeit von Jonathan Daniel Pryce, der hundert bärtige Männer fotografiert hat, gut ablesen: Hier ist nicht mehr ersichtlich, wofür die einzelnen Bärte exakt stehen.

derStandard.at: Kann die aktuelle Bartmode als Gegenentwurf zur neoliberalen Haltung gelesen werden?

Edlinger: Yuppietum und Bärtigkeit vertrugen sich schlecht in den Achtzigerjahren. Beispielsweise achteten die Figuren, die Bret Easton Ellis beschrieben hat, extrem penibel darauf, dass die Glattheit ihrer Persönlichkeit auch mit der Glätte ihres Gesichts korrespondiert. Auf der anderen Seite könnte man das fast umgekehrt formulieren - nämlich, dass besonders der Wunsch nach Individualisierung selbst ein Ausdruck neoliberaler Ideologie ist.

Eine wildwuchernde Bärtigkeit verträgt sich zwar immer noch schlecht mit Managertreffen in schicken Glaspalästen, aber das heißt nicht, dass der Wunsch nach individuellem Ausdruck, nach Anderssein der neoliberalen Haltung entgegensteht. Der Bart wird schließlich nach bestimmten Kriterien gestaltet, wofür man den richtigen Barttrimmer braucht. Das heißt, der Bart wird an bestimmte Produkte und Waren gekoppelt, was dem Neoliberalismus - wenn man dieses große Wort ins Spiel bringen will - keinesfalls entgegenwirkt.

derStandard.at: Die westliche Politik ist interessanterweise weitgehend bartlos geblieben. Woran liegt das?

Edlinger: Ich denke, dem Bart wird auch so etwas wie eine verhüllende Dimension zugeschrieben, die sich schlecht mit dem Wunsch nach Glaubwürdigkeit und Transparenz vereinbaren lässt. Ein dichter Bart signalisiert eben auch eine Intransparenz des Gesichts sowie des Ausdrucks. - Das Gesicht eines Politikers muss aber so wirken als wäre er transparent.

derStandard.at: Bartlosigkeit galt früher als Zeichen der Machtlosigkeit. Warum ist das heute nicht mehr der Fall?

Edlinger: Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Im ersten Weltkrieg wurde die Bartlosigkeit bei den Soldaten zunächst einmal zum entscheidenden Kriterium, besonders durch die Notwendigkeit bei Giftgasangriffen Gasmasken zu tragen. Zudem hat die Bartlosigkeit auch mit dem Beginn des Bürozeitalters zu tun. Die frühere bürgerliche Gesellschaft verlagerte sich ins Büro, wo eine Art aufgeräumte, transparente Egalität zumindest vorgegaukelt werden sollte.

Die fortschreitenden Demokratisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat schließlich die Bartlosigkeit als früheres Zeichen für Machtlosigkeit abgelöst, indem die "mächtigen" Bartformen - also die Macht anzeigenden wie auch körperlich mächtigen Bärte immer stärker als unmodern und als Relikt einer höfisch-aristokratischen Weltordnung gesehen wurden, die nicht mehr zur einer auf Demokratie und Gleichheit abzielenden Zeit gepasst haben.

derStandard.at: Halten Sie die neu gewonnene Begeisterung für die männliche Gesichtsbehaarung für eine temporäre Erscheinung oder handelt es sich dabei um ein längerfristiges Phänomen?

Edlinger: Meine Vermutung ist, dass es in Zukunft tendenziell zu einer Vermischung von Bartlosigkeit und verschiedensten Bartformen kommen wird, über die wir die zunehmende Differenzierung der ganzen Angebotspalette des Selbstausdrucks erleben können. Es wird einfach die Variabilität dessen, wie man Körper mehr oder weniger zu einem Text macht, den man lesen kann - und wo verschiedene Angebote des Sprechens, auch der "sprechenden Haare" - eher zu- als wieder abnehmen. Was nicht heißt, dass es nicht Menschen geben wird, die keinen Bart tragen.

derStandard.at: Könnte ein Grund auch darin liegen, weil sich der Bart womöglich auch als Ressort für tradierte Männlichkeitsentwürfe eignet?

Edlinger: In einer Zeit, wo das Rollenverhalten zwischen Mann und Frau nicht mehr so klar wie früher geregelt und eine Verunsicherung der Geschlechterrollen dominant geworden ist, kann der Bart ein körperliches Zeichen sein, um sich einer Position zu versichern. Durch seine Sichtbarkeit oder schiere Materialität setzt er zumindest ein sicheres Zeichen der Differenz oder Unterschiedlichkeit. - Jemand kann beispielsweise Hausmann sein, und es ist nicht mehr eindeutig worin der Unterschied zur Hausfrau liegt. - Durch den Bart bleibt der Mann letztendlich als Mann gekennzeichnet. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 27.11.2012)