Herbert Tumpel: "Alleine durch das Bankenpaket haben sich die Schulden um zehn Milliarden Euro erhöht, ...

Foto: derStandard.at/Maria von Usslar

... fünf Milliarden davon sind direkt aus dem Budget an die Banken geflossen."

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Er ist der längstdienende Arbeiterkammer-Präsident, nächstes Jahr gibt er das Zepter ab. derStandard.at hat Herbert Tumpel in seinem Wiener Büro besucht, und mit ihm über die Krise, den "Österreich-Aufschlag" bei Lebensmitteln und Mieten und über das Annähen von Knöpfen gesprochen.


derStandard.at: Vor einigen Jahren hat Sie das Magazin Datum nach Ihren Lieblingsliedern gefragt. Sie haben eindeutig ein Faible für das Motiv der Freiheit und der Ungebundenheit. Wie erhalten Sie sich ihre Freiheit in ihrem Job als AK-Präsident und auch im Privaten?

Herbert Tumpel: Das ist eine Balance zwischen dem notwendigen Einsatz, den dieses Amt einfordert, und Freiräumen, die nicht mit dieser Funktion zusammenhängen.

derStandard.at: Was wäre so ein Freiraum?

Tumpel: Das Lesen. Das geht dann zu Lasten des Schlafes. Vor dem Einschlafen lese ich noch eine Stunde, ganz egal, wann ich heim komme.

derStandard.at: Was steht da neben dem Bett?

Tumpel: Philosophie, Geschichte, aber auch sogenannte Schundliteratur. Es gibt hervorragende neue österreichische Krimiautoren. Momentan am Nachttisch liegt Volksfest von Rainer Nikowitz.

derStandard.at: Hilft das auch im Beruf?

Tumpel: Nein, das soll den Kopf und das Herz von der täglichen Belastung befreien. Es ist anregend, aber nicht unmittelbar im Alltag verwertbar.

derStandard.at: Ihr Alltag als AK-Präsident dreht sich um die Nöte der Arbeitnehmer. Dazu gehört die Teuerung. Wohnen und Energie sind die Preistreiber. Sie sagen, unsere Inflation ist "hausgemacht". Was läuft da falsch?

Tumpel: Wir haben eine stärkere Inflation als andere Länder, was am "Österreich-Aufschlag" liegt. Die Gewerkschaften strengen sich an und holen bei den Lohnverhandlungen gute Abschlüsse heraus, aber beim Wohnen und den Nahrungsmitteln haben wir schon über einen längeren Zeitraum eine starke Teuerung. Dem kann sich kein normaler Arbeitnehmer, keine normale Arbeitnehmerin entziehen. Wohnen muss man, Essen muss man, und auf Energie ist man auch angewiesen.

derStandard.at: Die Mieten werden ja gerade heiß diskutiert.

Tumpel: Es zeigt sich, dass gerade die Mieten weit stärker als die Inflationsrate, weit stärker als die Lohnerhöhungen gestiegen sind. Hier braucht es ein neues Mietrecht, das die Zuschläge begrenzt (...., Anm.). Momentan wird ja für alles ein Zuschlag verrechnet. Es muss auch sein, dass die Kosten einer Hausversicherung nicht auf die Mitarbeiter gewälzt werden. Dass das Haus versichert ist, ist ja im Interesse des Eigentümers. Genauso bei der Grundsteuer, die hat der Besitzer zu zahlen, nicht der Mieter.

derStandard.at: Sie stimmen also den Forderungen von Wiens Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou zu?

Tumpel: Wir haben das immer schon gesagt, unabhängig von der aktuellen politischen Diskussion. Das stößt jetzt auf breitere Akzeptanz.

derStandard.at: Sie haben den "Österreich-Aufschlag" ja schon erwähnt. Die Wirtschaftskammer spricht von Legendenbildung. Was sagen Sie dazu?

Tumpel: Es ist noch nie gelungen, uns falscher Preise zu bezichtigen. Die, die wir erhoben haben, entsprechen der Realität.

derStandard.at: Wie müsste man da gegensteuern?

Tumpel: Wir brauchen Maßnahmen zur Belebung des Wettbewerbs. Nehmen wir den Energiesektor, da fordern wir eine Beweislastumkehr, wenn es zu Preiserhöhungen kommt. Wenn sie den Strom teurer machen, müssen sie begründen, warum sie das tun. Das ist momentan in der politischen Diskussion.

derStandard.at: Wird das kommen?

Tumpel: Ich hoffe es. In Deutschland wird es schon so gemacht. Die Wettbewerbsbehörde dort sieht das als wichtigen Ansatzpunkt. Warum sollte das in Österreich nicht möglich sein? Gelten sollte es auch für die Mineralölwirtschaft, eigentlich für alle Bereiche, wo es besonders hohe Teuerungsraten gibt.

derStandard.at: Hohe Preissteigerungen treffen gerade jene, die weniger verdienen. Oder gerade noch genug verdienen, um sich ihr Leben leisten zu können. Kann sich der Mittelstand halten oder rutscht er ab?

Tumpel: Rechnet man die untersten und obersten 20 Prozent weg, sind wir dort, was ich als Mittelstand definiere. In Deutschland ist er abgerutscht. In Österreich ist er es nicht, aber die Vermögensverteilung wird immer ungleichmäßiger. Das reichste Prozent der Haushalte hält in Österreich 300 Milliarden Euro an Vermögenswerten.

derStandard.at: Es beschleicht einen das Gefühl, dass das System Sozialpartnerschaft bröckelt. Die Metaller verhandeln nicht mehr für alle Verbände gemeinsam, KVs werden einseitig von Arbeitgeberseite aufgekündigt. Was ist da los?

Tumpel: Das Ergebnis macht mich - noch - sicher. Bei den Metallern sind die Abschlüsse fast ident, obwohl es verschiedene Verhandlungsteams gegeben hat. Die Sozialpartnerschaft funktioniert. Es haben sowohl die Arbeitnehmer, als auch die Unternehmer etwas davon. Bis jetzt setzen sich die Vernünftigen auf beiden Seiten durch. Jene, die sagen: Wir haben gemeinsame Interessen.

derStandard.at: Die Krise schwebt seit Jahren über den Lohnverhandlungen. Es heißt von Arbeitgeberseite, es gäbe jetzt weniger zu verteilen.

Tumpel: Dazu ist Zweierlei festzuhalten. Zunächst: Sogar manche Politiker haben gesagt, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. Die Arbeitnehmer haben das aber mit Sicherheit nicht getan. Die Krise hatte und hat ihren Ausgangspunkt in der Finanzwirtschaft. Mit ihren irrwitzigen Spekulationen, die letztendlich so stark auf die Realwirtschaft durchgeschlagen haben, dass wir alle auf einmal schlechter dagestanden sind. Die Staatsverschuldung ist in Österreich in dieser Zeit stark hinaufgegangen, ...

derStandard.at: ... was uns alle trifft ...

Tumpel: ... alleine durch das Bankenpaket haben sich die Schulden um zehn Milliarden Euro erhöht, fünf Milliarden davon sind direkt aus dem Budget an die Banken geflossen. Noch immer wird laufend diskutiert, wo und was noch gebraucht wird. Jetzt sind es wieder einmal 500 Millionen an die Hypo Alpe Adria. Dafür war Geld da. Zweitens ist festzuhalten: Trotz der Krise - das zeigen unsere Bilanzanalysen - liegen die Ausschüttungen an die Aktionäre in derselben Größenordnung wie in den Jahren vor der Krise. Krise hin, Krise her - jene, die die Gelder erreicht haben, sind unheimlich gut bedient worden. 

derStandard.at: Das Geld ist da, es landet nur nicht bei den Arbeitnehmern?

Tumpel: Es landet dank der Lohnverhandlungen schon auch bei den Arbeitnehmern, es muss aber wesentlich härter darum gestritten werden.

derStandard.at: Bricht eine neue Ära des Klassenkampfes an?

Tumpel: Ja. In Zeiten des Neoliberalismus, wenn liberalisiert, dereguliert und privatisiert wird, hat immer der Arbeitnehmer bezahlt. Es wurde und wird von den Arbeitgebern auch gerne gedroht, Österreich zu verlassen. Unter Verkennung der Tatsachen, dass Österreich eine gute Infrastruktur und hervorragende Facharbeiter hat.

derStandard.at: Die Firmen drohen ja nicht nur mit Abwanderung. Sie schaffen es oft auch durch legale Steuertricks, sich der Besteuerung in Österreich zu entziehen.

Tumpel: Was mich am meisten empört, ist der Steuerbetrug und die Steuerhinterziehung. Wenn man bestehende Gesetze bewusst verletzt und hier der Öffentlichkeit die notwendigen Finanzmittel vorenthält. Das hat gar nichts mit Steuerpolitik zu tun. Das zweite ist: Schluss mit den Steuerdumpingländern. Es wird jetzt in der EU überlegt, was mit all den Geschäften - auf gut Wienerisch - "unter der Budel" passiert. Dass entsprechende Maßnahmen getroffen werden, um die halblegale Steuerflucht einzudämmen.

derStandard.at: Reichen Ihnen die Maßnahmen, die bisher getroffen wurden?

Tumpel: Die Ansätze sind richtig, es geht mir nur viel zu langsam. Das ist ähnlich wie bei der Finanztransaktionssteuer, zu der sich zehn, elf Länder jetzt bekannt haben. Ich halte das für einen ganz entscheidenden Ansatz.

derStandard.at: Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Steuer auch tatsächlich kommt?

Tumpel: In Österreich gab es rasch Übereinstimmung, dass eine Finanztransaktionssteuer nötig ist. Die Sozialpartner haben sich darauf geeinigt und die Regierungsparteien haben es als Programm übernommen. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel hat 2008, 2009 ebenfalls gesagt: Ja, das ist ganz gut. Aber dann ist nichts mehr weitergegangen. Wir vier Sozialpartnerpräsidenten waren damals beim Steuerkommissar in Brüssel und haben unseren gemeinsamen Vorschlag präsentiert, doch der hat ihn vom Tisch gewischt und gesagt: Das kommt überhaupt nicht in Frage, die Kommission macht von sich aus keinen Vorschlag. Jetzt sind Österreich, Deutschland, Frankreich und weitere Länder doch übereingekommen, eine Finanztransaktionssteuer zu machen. Das ist eine neue Qualität.

derStandard.at: Aber es dauert halt. Diesen Vorwurf bekommt auch die Sozialpartnerschaft zu hören.

Tumpel: So lang sind unsere Verhandlungen auch nicht. In vielen Bereichen ist es der konträre ideologische Standpunkt. Wenn Leute total marktgläubig sind oder elitengläubig, dann kriegt man nichts weiter. Zum Beispiel in der Bildungspolitik.

derStandard.at: Sie sprechen die Ganztagsschule an.

Tumpel: In allen anderen europäischen Ländern, selbst in konservativ regierten, gibt es die Ganztagsschule, wo eine vernünftige Aufteilung von Unterrichtseinheiten, Sport und Erholungszeiten geboten wird. Ich freue mich, dass das Angebot an Ganztagsschulen ausgeweitet wird. Aber schon wieder geht das so langsam, dass man sich fragt, wo die Ursachen liegen.

derStandard.at: Was sind die Ursachen?

Tumpel: Es ist nicht eine Frage der Konzepte. Es scheitert immer wieder an einer Mehrheit im Parlament, das ist ärgerlich.

derStandard.at: Fehlt es an zusätzlichen Kinderbetreuungseinrichtungen?

Tumpel: Die Frage ist offen, ob es genug davon gibt. Angefangen von der Kleinkindbetreuung, die qualitativ gut sein muss. Das soll ja keine Bewahranstalt sein, sondern da sollen pädagogische und soziale Fähigkeiten vermittelt werden. Bis hin zu einem Ganztags-Schulangebot. Das wünschen sich die Eltern. Da muss die notwendige Mehrheit gefunden werden. Und da hängt es schon sehr oft an der ÖVP, dass dem nicht zugestimmt wird.

derStandard.at: Wie nimmt man da der ÖVP die Angst vor dem Statusverlust, wenn ihre Kinder mit allen gemeinsam in die Schule gehen?

Tumpel: Bildung ist nicht nur durch Herkunft, nicht nur durch elitäre Herkunft gekennzeichnet. Eine gemeinsame Schule hilft durchaus allen. Gemeinsame Schule heißt ja nicht Einheitsbrei, sondern Eingehen auf die Stärken und die Schwächen. Dieses Konzept hat schon eine breitere Anhängerschaft. Es gibt ja auch in der ÖVP Stimmen, die sagen, das ist ein sinnvolles Konzept.

derStandard.at: Will man die eigene Wählerschaft durch vermeintlich unpopuläre Maßnahmen nicht vergraulen?

Tumpel: Ich sehe überkommene ideologische Positionen. Wenn man mit internationalen Personalmanagern redet, können die gar nicht verstehen, dass dieses Potenzial in Österreich nicht genutzt wird. Warum vor allem Frauen die Entscheidung für Beruf und Familie nicht grundlegend erleichtert wird - eben durch Kinderbetreuungseinrichtungen, durch ein Entgegenkommen der Unternehmen, um die beiden Lebensbereiche auch vereinbar zu machen. In anderen Ländern führt man diese Diskussion um Familie und Beruf nicht als ideologische. Selbst im konservativen Frankreich gibt es wesentlich mehr flächendeckende Kinderbetreuungseinrichtungen als in Österreich.

derStandard.at: Das würde für Frauen einen früheren Wiedereinstieg in den Job und damit mehr Pensionsjahre bedeuten. Sie selbst arbeiten bis 65 und heben damit das durchschnittliche Pensionsantrittsalter an. Wird das in ein paar Jahren normal sein, bis 65 zu arbeiten?

Tumpel: Ich bin zuversichtlich. Es wird die große Herausforderung sein, die Leute gesund zu halten, damit sie arbeitsfähig sind. Jene, die ihren Beruf krankheitsbedingt nicht mehr ausüben können, brauchen andere Qualifikationen. Ab 2014 kann sich dann jeder ausrechnen, so er gesund ist und einen Arbeitsplatz hat, welche Vorteile es bringt, wenn man länger arbeitet. 

derStandard.at: Sind Sie mit der Altersteilzeit zufrieden?

Tumpel: Die Altersteilzeit ist nur ein Steinchen. Am wichtigsten sind jene Maßnahmen, die verhindern, dass Menschen durch Arbeit systematisch krank gemacht werden. Durch das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz von 1994 wurden da enorme Fortschritte bei den physischen Faktoren, wie Lärm, Kälte, Erschütterungen, schwere Gewichte heben, erzielt. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle ist um ein Drittel zurückgegangen, Arbeitsunfälle um ein Viertel. Neu sind die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt, da braucht es noch wesentliche Maßnahmen. Arbeitstempo, Arbeitsverdichtung, Umorganisation innerhalb von Unternehmen, das bringt Verunsicherung und die Belastungen wirken sich auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus.

derStandard.at: Am anderen Ende der Arbeitsbiografie liegen die Jungen. In Ländern wie Griechenland oder Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei knapp 50 Prozent. Ist das ein Pulverfass?

Tumpel: Ja. Wenn es Europa nicht gelingt, die Jugendarbeitslosigkeit massiv zu reduzieren, wird seine Akzeptanz bald nicht mehr gegeben sein. Das sickert jetzt langsam doch in die Köpfe der politisch Verantwortlichen. Ich bin sehr froh, dass Sozialminister Hundstorfer eine Ausbildungsgarantie für Junge gegeben hat.

derStandard.at: Suchen die Firmen lieber gleich ausgebildete Kräfte?

Tumpel: Die österreichischen Betriebe reden dauernd von einem Facharbeitermangel. Tatsächlich haben wir aber 4.000 junge Menschen weniger im ersten Lehrjahr in den Betrieben als es noch vor der Krise 2008 der Fall war. Umso wichtiger ist es, diese Ausbildungsgarantie in überbetrieblichen Lehrbetrieben anzubieten. Bildungspolitische Maßnahmen für Junge bringen etwas, auch, um langfristig Österreichs Position im internationalen Wettbewerb zu erhalten? Weil was haben wir in Österreich: Eine schöne Landschaft und gut ausgebildete Menschen, die motiviert sind.

derStandard.at: Von Unternehmerseite hört man immer wieder, sie würden keine Lehrlinge finden, die pünktlich zur Arbeit kommen, die überhaupt arbeiten wollen.

Tumpel: Ich weiß nicht, ob es Aristoteles oder Platon war, der im alten Griechenland schon gesagt hat: Eine verblödete und verrottete Jugend habe es zu seiner Zeit nicht gegeben. Es ist offensichtlich eine endlose Leier. Es gibt natürlich reale Probleme, aber genau deswegen ist es notwendig, dass Kinder in pädagogisch betreuten Kindergärten Sozialverhalten lernen, dass sie Motorik beherrschen lernen, dass sie spielerisch Lernen lernen.

derStandard.at: Sie haben ja die HTL für Textilindustrie besucht, bevor Sie Volkswirtschaft studierten. Wieso haben Sie sich für diese Schule entschieden?

Tumpel: Ich war in einem Realgymnasium. Ab der Fünften hätte ich Latein gehabt, da war ich damals nicht sehr motiviert dazu, deswegen bin ich in die HTL gegangen.

derStandard.at: Haben Sie da auch gelernt, einen Knopf anzunähen?

Tumpel: Ich hab die Fachrichtung Weberei gemacht. Meine Fähigkeiten zum Knopfannähen waren damals und sind heute noch eher beschränkt. Beim Bundesheer konnte ich mir auch meine Hose nicht nähen, sondern habe sie von innen mit Leukoplast verklebt. Wenn ich im Schnee saß, wurde ich dafür nicht nass. (lacht) Bügeln kann ich, aber Nähen nicht. (Text: Daniela Rom, Hermann Sussitz, derStandard.at, Video: Maria von Usslar, 26.11.2012)