Graz, wo am nächsten Sonntag der Gemeinderat gewählt wird, ist österreichweit und möglicherweise europaweit ein Unikum. Die Kommunistische Partei, die es anderswo praktisch nicht mehr gibt, könnte laut Umfragen zwanzig Prozent der Stimmen erreichen und hat gute Chancen, vor SPÖ, FPÖ und Grünen den zweiten Platz hinter der ÖVP zu erreichen. Wie gibt's denn sowas? Einfache Antwort: Weil hier Politiker und Politikerinnen am Werk sind, die das, was sie proklamieren, auch leben.

Jubiläumsfest der Caritasschule in der steirischen Hauptstadt. Gäste werden begrüßt. Die Reihe kommt an die Wohnungsstadträtin Elke Kahr, Spitzenkandidatin der KPÖ. Langanhaltender, herzlicher Applaus. Er gilt einer hochgewachsenen, schmalen Einundfünfzigjährigen in einer der hinteren Reihen, von Beruf Bankanstellte, Mutter eines Sohnes. Später antworten etliche Festteilnehmer, mehrheitlich im Sozialbereich engagiert, auf die Frage, wen sie denn zu wählen gedächten: Elke Kahr.

Es ist klar, dass es den meisten potenziellen Grazer KPÖ-Wählern nicht um die Diktatur des Proletariats, um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und auch nicht um die Weltrevolution geht - obwohl manche sich eine grundlegende Veränderung unseres Raubtier-Wirtschaftssystems durchaus wünschen würden. Ihnen gefällt die Art, wie Elke Kahr Wohnungspolitik macht. Sie kämpft für mehr Gemeindewohnungen und leistbares Wohnen in ihrer Stadt.

Wie ihr legendärer Vorgänger Ernest Kaltenegger und wie viele ihrer Genossen und Genossinnen verzichtet sie auf den Teil ihres Gehalts, der über ein normales Angestelltengehalt von zweitausend Euro hinausgeht, und legt das Geld in einen Fonds. Menschen, die ihre Miete nicht zahlen können oder deren Heizung kaputt ist, wird daraus geholfen. Am Jahresende wird die Gebarung offengelegt.

Neue Bürgerlichkeit

Graz ist eine Stadt der "neuen Bürgerlichkeit". Viele junge Familien, viel Interesse für Bildung und Umweltfragen. Studiengebühren, Feinstaub und Parkplätze sind Hauptthemen im Wahlkampf, bei allen Parteien. Aber auch bürgerlicher Anstand, soziale Fragen und Solidarität interessieren viele. Als in der Stadt das Betteln verboten wurde, gingen zahlreiche junge Leute vor das Rathaus demonstrieren. Und der sozialdemokratische Altbürgermeister Alfred Stingl und der Theologieprofessor und katholische Priester Philipp Harnoncourt, Bruder des Dirigenten, privat gute Freunde, setzten sich mit dem Hut in der Hand aus Solidarität mit den Bettlern almosenheischend in die Herrengasse. (Sie wurden angezeigt, aber als "nicht gewerbsmäßige Bettler" freigesprochen.) Viele Grazer fanden das gut.

Lassen sich aus alldem Schlüsse ziehen, auch über die Stadt Graz hinaus? Dass Parteinamen immer unwichtiger werden und integre Politikerpersönlichkeiten immer wichtiger. Dass man nicht nur mit Rechtspopulismus Erfolg haben kann. Dass es etwas bringen kann, nicht nur an die miesesten Instinkte des Wahlvolks zu appellieren. Dass es eine verbreitete Sehnsucht nach Politikern gibt, die Anständigkeit nicht nur predigen, sondern auch danach handeln.

Übrigens, was wurde eigentlich aus Ernest Kaltenegger? Er arbeitet jetzt im Landtag und sitzt nebenbei im Beirat der Grazer Franziskaner. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 22.11.2012)