"Biografien sind eine eigenartige Angelegenheit. Meist ist es doch so, dass der Autor sehr weit unter der in der Biografie vorgestellten Person steht, da ist es dann unvermeidbar, dass sich etwas Belehrendes und Erzieherisches einschleicht." Das wollte Michael Nedo vermeiden, als er seine Biografie des Philosophen Ludwig Wittgensteins konzipierte. Daher wählte der Direktor des Wittgenstein-Archivs in Cambridge eine "neue Form der Biografie", indem er Fotos, Dokumente und Textpassagen zu einem biografischen Album verschmolz.
Das Buch, das am Dienstag samt dazugehöriger Ausstellung im Rahmen der Lesefestwoche der Buch Wien in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt wurde, zeigt etwa auf einer Albumseite das Maturazeugnis des Philosophen nebst einem Foto, das die Familie beim Mittagstisch zeigt, und einer Abbildung der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg, an die Wittgenstein ging.
Zentrales Anliegen sei es, den für das Verständnis von Wittgensteins Philosophie wichtigen Zusammenhang zwischen Leben und Werk aufzuzeigen, schreibt Nedo im Buch. Durch die Texte erhalten die Bilder eine neue Bedeutung - ein Arbeitsprinzip, dem laut Nedo auch der Philosoph anhing: " Das ist ein Konzept, das Wittgenstein selbst verwirklicht hat, wenn er etwa im Vorwort zu seinen ,Philosophischen Untersuchungen' seine Bemerkungen mit Landschaftsbildern vergleicht, die sich der Leser aber selbst vorstellen muss."
Jede Doppelseite des Wittgenstein-Albums soll eine eigene, abgeschlossene Geschichte erzählen. Für die Zeit Wittgensteins in Cambridge stehen etwa die gemeinsame Wohnung von Francis Skinner und Wittgenstein und die Aufnahme eines Straßenfotografen, der die beiden schlendernden Herren ablichtete. "Die Gedanken müssen in natürlicher Weise fortschreiten", zitiert Nedo den Philosophen.
500 Fotos
Nedos Auswahl umfasst 500 Fotos aus den mehr als 15.000 des Wittgenstein-Archivs. Schwieriger als Bilder war für Nedo das Finden und Auswählen von Textstellen, die er aus Wittgensteins Werk, Erinnerungen von Geschwistern, Freunden und Schülern sowie der Korrespondenz des Philosophen zusammentrug. Das Album soll zum weiteren Studium des " bedeutendsten Denker unserer Zeit" beitragen, weniger Erläuterung oder Belehrung sein.
Erben und auch Zeitgenossen hätten ein schwieriges Verhältnis, fast eine " Hassbeziehung" zu Wittgenstein und seinem Werk gehabt, meint Nedo. Diese Antipathie sieht Nedo vor allem darin, dass Wittgenstein "jede Form von intellektueller Routine und Struktur ablehnte, sogar verweigerte und alles infrage stellte und oft kritisierte". Auch Nedo musste sich in seiner Wittgenstein-Forschung bereits Kritik stellen. Er sei "nicht gründlich, sondern ein Gigantomane" und ein "dubioser Herausgeber", schrieb Der Spiegel, als Nedo den Druck einer Gesamtausgabe anstieß. (APA, pum, DER STANDARD, 21.11.2012)