Wer dieser Tage als Patient eine Wiener Ordination aufsucht, sollte gesundheitspolitisch gut informiert sein und Loyalitätskonflikte aushalten können. Andernfalls wird er vom Arzt seines Vertrauens nämlich aktionistisch vereinnahmt. Die Ärztekammer mobilisiert seit Monaten gegen Elga ("So nicht!") und neuerdings auch gegen die Gesundheitsreform. Man sollte aber wissen: das Patienteninteresse wird vorgeschoben, tatsächlich geht es um Machtpolitik.

Mittels Plakatkampagne wird seit einigen Tagen neue Unruhe in den Wartezimmern geschürt: "Mein Arzt ist weg / Unser Spital ist weg. Eingespart" Stimmt das überhaupt? Präsident Wechselberger gab nämlich bereits zu, "dass die Kampagne ein Versuch ist, Antworten auf die Fragen der Zukunft des Gesundheitswesens zu bekommen". Die Angst der Patienten vor Unterversorgung nimmt man da offenkundig als Nebenwirkung in Kauf.

Wesentliches wird verschwiegen

Zugleich verschweigen die Ärzte, was sie wirklich bekämpfen wollen: Künftig soll es eine klare Versorgungsplanung zwischen den Ländern und der Sozialversicherung ohne Mitwirkung der Ärztekammer geben. Damit fürchtet die Kammer um ihre bisherige Machtposition in dieser Frage. Das Patienteninteresse, das jetzt proklamiert wird, war in der Stellenvergabepolitik der Ärztekammer aber bisher oft zweitrangig. Denn das Kammerveto kann auch dazu genützt werden, Land und Sozialversicherung an einer bedarfsorientierten Versorgung zu hindern. Wenn ein Bundesland etwa in einer abgelegenen Region eine Facharztstelle einrichten will, kann das Vorhaben an den Kammerfunktionären scheitern. Die Ärzte werden sich aber daran gewöhnen müssen, dass die Verteilung der Stellen am Bedarf und nicht an berufsständischen Interessen orientiert sein muss.

Die Angstmache, die morgen durch einen Ärzteprotestkonvent in Wien einen neuen Höhepunkt erleben wird, geht außerdem an den Realitäten unseres Gesundheitswesens vorbei. Es ist nämlich absurd, angesichts der Ärztedichte und der Spitalslastigkeit des österreichischen Gesundheitswesens vor einer Unterversorgung zu warnen. Im europäischen Vergleich liegen wir auf dem zweiten Platz bei Spitalsbetten und mit Abstand auf Platz eins bei Krankenhaushäufigkeit. Auch an niedergelassenen Ärzten fehlt es hierzulande nicht: Nur Griechenland hat mehr. Die Schweden leisten sich nur ca. ein Drittel unserer Spitals-Betten, leben aber im Vergleich zu uns um 10 Jahre länger bei guter Gesundheit.

Offensichtlich geht es also nicht um einen Mangel, den es abzuwenden gilt, sondern erstmalig ist es so, dass die Ärztekammer nicht mehr im " Teile und herrsche"-Prinzip zwischen Ländern, Bund und Sozialversicherung hineinspalten kann. Seit sich die drei Player verständigt haben, gemeinsam zu planen und zu steuern, statt einander die Kosten zuzuschieben, kann die integrierte Versorgung, die insbesondere chronisch Kranke brauchen, realisiert werden. Es ist daher unzulässig, die Patienten für den standespolitischen Machtkampf zu instrumentalisieren und ihre Abhängigkeit, ihr mögliches Wissensdefizit und ihre Loyalität in der Ordination auszunützen. Stattdessen täte man gut daran, an den notwendigen Strukturanpassungen mitzuarbeiten, damit die Gesundheitskosten nicht aus dem Ruder laufen und die Versorgungsmängel endlich behoben werden.

Viele Fragen

Als Patientenanwältin frage ich daher die Ärzteschaft, was sie etwa dagegen unternimmt, dass die Sterblichkeit der Österreicher wegen Diabetes doppelt so hoch liegt wie im Durchschnitt der EU-15-Staaten. Ist es da hinzunehmen, dass nur 167 Wiener Ärzte motiviert sind, beim Programm: "Therapie Aktiv - Diabetes im Griff" mitzumachen? Warum eigentlich müssen Gesundheitsleistungen für chronisch Kranke, Impfungen oder die Versorgung kleiner Verletzungen ausschließlich von Ärzten erbracht werden? Die viel gesünderen Schweden setzen dazu erfolgreich spezialisierte Pflegekräfte ein. Oder: Warum verwendet die Ärztekammer ihr Kampagnenbudget nicht endlich dafür, das mangelnde Gesundheitswissen der Bevölkerung zu verbessern? Österreich liegt vor Bulgarien und Spanien auf dem drittletzten Platz. Das heißt, dass fast die Hälfte der Patienten nicht versteht, was der Arzt sagt und daher die Therapie nicht richtig befolgen kann. Wo bleibt hier der Aktionismus der Ärzteschaft im Interesse der Patienten?

Bei so viel Schweigen zu wichtigen Fragen und so viel Lärm für Standesinteressen verwundert nicht, dass Niederösterreichs Gesundheitslandesrat Wolfgang Sobotka (VP) laut darüber nachdenkt, ob die Ärztekammer nicht eigentlich aufgelöst werden sollte. (Sigrid Pilz, DER STANDARD, 20.11.2012)