Während meine Freundin und ich in Italien leben ist die Nostalgie eine ganz und gar wirklich und mit allem Herzen gewollte Leberkäs-Semmel, dunkles Brot und eine Leberknödelsuppe.

Foto: christian fischer / standrad

Seit einundvierzig Jahren bin ich das, was heute jedermann "Migrant" nennt. Ich migriere sogar mehrfach und lande dadurch in "migrantischen Umfeldern" zweier Kontinente. Alle Erkenntnis daraus reduziert sich auf zwei Feststellungen: Fast niemand migriert aus Jux und Tollerei, fast jeder hat eine pathetisch verklärte Sehnsucht nach der "Alten Heimat".

Mit Kreuz und Besen

Sonntagmorgens hole ich frische Semmeln und Kipferl. Gegen acht Uhr sind die Gassen rund um die Meidlinger Fußgängerzone so leer wie kurz vor einem Luftangriff. Wenn ich um eines der Eckhäuser biege, dann ist sie manchmal da. Sie mag etwa 70 sein, hat ein Kreuz um den Hals, ein Kopftuch und ist in eine balkanische Kombination aus Jersey-bunten Unterkleidern, Pullover, Rock und wollenen Kniestrümpfen gekleidet, ihre Füße stecken in großen Filzpantoffeln. Die Gesamtkomposition der Farben wirkt nur am Platz, wenn man sich vorstellt sie sei auf dem Hof eines Bauerhauses irgendwo in Slawonien, dem Banat oder einem Dorf bei Požarevac.

Für mich scheint es, sie würde sich ebendort wähnen, während sie vor einem Wiener Haustor in Meidling steht und mit dem Besen den Eingangsbereich kehrt. Genauso wie einst ihren Hof vor dem Bauernhaus in dem wahrscheinlich etliche Generationen ihrer Vorfahren geboren sind. Manchmal sieht sie hinauf zum Himmel, der aber hier ein fremder ist und ihr nichts über das Wetter des kommenden Tages verrät.

Dann blickt sie wieder auf den Beton zu ihren Füßen und entdeckt noch einen, zwei Flecken, die gekehrt werden müssen. Mit einem letzten Spähen zum grauen Himmel, sie und der Himmel immer noch stumm, geht sie in das Haus hinein wo sie die Dunkelheit des Haustores schluckt.

Zwölf Tunnels zum Glück

Manchmal nimmt das Heimweh auch sehr konkrete Form an. Während meine Freundin und ich in Italien leben ist die Nostalgie eine ganz und gar wirklich und mit allem Herzen gewollte Leberkäs-Semmel, dunkles Brot und eine Leberknödelsuppe. Das sind lauter Köstlichkeiten, die im Friaul so unbekannt sind wie sonst wo Fluba, der Fisch von der Venus.

Wenn diese Gaumennostalgie etwa alle zwei Wochen unerträglich wird, setzen wir uns ins Auto und fahren von Palmanova nach Arnoldstein. Dort ist eine Fleischerei mit Imbiss und Parkplatz. Erst essen wir je zwei Leberkäs-Semmeln, ganz langsam und sorgsam wie zu Hause niemals. Danach gehen wir zum Bäcker, kaufen einige Laibe diverser dunkler Brotsorten und kehren zum Fleischer zurück um uns mit seinen selbstgemachten Leberknödeln einzudecken.

Auf dem Rückweg versuchen wir uns die Reime in Erinnerung zu rufen, die wir auf dem Hinweg zu jedem der zwölf Tunnels, die auf der Strecke bis nach Arnoldstein liegen erfinden, um uns die Zeit bis zum Leberkäs zu verkürzen. Ich kann mich an keinen einzigen erinnern. Was bleibt ist bloß die Erinnerung an den orgiastischen Augenblick, wenn sich meine Zähne zum ersten Mal nach vielen Tagen wieder in die Semmel bohren und der Käse mir auf die Zunge rinnt. Alle zwei, drei Wochen.

Wasser im Wein

In Neuseeland gibt es auch gute Weine. Doch mein Freund Josip kauft absichtlich die übelste Tetrapack-Brühe und wässert sie anschließend. Beim Trinken sagt er immer, diese Kombination erinnert ihn an die Wein-Wasser-Mischung, die in Dalmatien Bevanda genannt wird. Man kann sie halb-halb trinken oder drei-in-fünf, was drei Anteilen Wein und zwei Anteilen Wasser entspricht.

Auf Brač, so erklärt mir Josip, ob´s nun wahr ist oder nicht, behalten die Weinbauer den schlechtesten Wein für sich, weil der gute ja gestreckt und dennoch verkauft werden kann. Wahrscheinlich ist das nur eine der Legenden um den sprichwörtlichen Geizi der Bračani. Doch diese Bevanda in Auckland bewirkt, dass Josip und ich wieder jung sind und auf Brač Unbill verbreiten, wie junge Maulesel das neunmal tun. Und weil der Wein verwässert ist, können wir lange jung sein und auf Brač, bevor unsere Köpfe langsam zur Tischplatte sinken und die Zeitreise ein Ende findet.

In Auckland, wie anderswo auch, gibt es unternehmerische Geister, die auf dieser kulinarischen Nostalgie ihr Geschäft aufbauen. Josips Bruder Dinko heiratet in eine dieser Familien ein, die in der Fremde mit Lebensmitteln aus der Heimat handeln. Das Geschäft blüht, man hat schon drei Supermärkte und auch den gesamten nördlichen Mediterran in die Produktpalette einbezogen, so dass außer Kroaten, Serben und Bosniern auch Italiener, Griechen und manch verirrter Franzose Kunden sind. Dinko jedenfalls, isst jeden Abend wie auf Brač, wo seine Mutter, die wir nur Teta Vaja nennen, kocht. Josko und ich begnügen uns mit wenigen dieser Abende, weil die Befriedigung der Nahrungsnostalgie mit Originalzutaten für uns einfach zu teuer ist.

Der letzte Trost

Ich bin ein halbwüchsiger, also ein Mulac, wie man in Dalmatien sagt als ich den alten Mann zum ersten Mal sehe. Im letzten Sommer ist er noch nicht da, aber in diesem Sommer kommt er jeden späten Nachmittag aus einem der Häuser auf dem Hügel des Heiligen Rochus, geht die steile Gasse hinab zum Hafen und setzt sich auf eine der Bänke unterhalb des Domizils von Jerolim Kavanjin Capogrosso, dem großem kroatischen Dichter des Barock. Hier sitzend kann er den ganzen Hafen und fast ganz Sutivan überblicken.

Er ist gekleidet wie eine Figur aus einem Kolonialfilm: Weißer Anzug, weißes Hemd und ein weißer Borsalino mit cremefarbener Borte. Ich habe seinen Namen inzwischen vergessen, vielleicht ist er einer von den Kirigins die nach Argentinien auswandern oder einer von den Canalettos die in Chile ihr Glück suchen. Jedenfalls, so sagt mir Mate, ist er als junger Mann nach Südamerika ausgewandert und nun zum Sterben nach Sutivan zurückgekommen. Im nächsten Sommer sehe ich ihn nicht mehr.

Auch die "Schöne Rosaria" ist ausgewandert, allerdings nur bis nach Belgrad. Ihre andere Migration besteht in der Flucht in den Alkohol. Sie soll vor vielen Jahren als Feuerwache im Tourist-Büro betrunken eingeschlafen sein, wodurch ein Brand zu spät an die Feuerwehr gemeldet wird und viele Oliven verbrennen. Danach verschwindet Rosaria und säuft in Belgrad mit einem Mann die nächsten 30 Jahre. Eines Morgens taucht sie in Sutivan auf, spaziert entlang des Hafens zu ihrem Haus, legt sich in ihr altes Bett und stirbt am selben Nachmittag.

Mein privates Heimweh

Ich wäre nicht hier, wäre es für meine Eltern in der alten Heimat nicht mies genug, um ins vermeintlich Bessere zu migrieren. Man fragt mich gar nicht erst, sondern schleift mich einfach nach Wien. Und siehe da: Wenn ich nur genug Leberkäs in meiner Semmel habe, wird Wien zur vermissten alten Heimat. Ein Schmetterlingswunder der Migration. (Bogumil Balkansky, 18.11.2012, daStandard.at)