"Wir sind schon eine stark autoritätsgläubige Gesellschaft geblieben": Bernd-Christian Funk

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Wenn im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Rapper einem Moderator einen Stoß versetzt, dann sorgt das für Erregung, wie sie bei kaum einem tagespolitischen Thema aufkommt – Gewalt scheint zu faszinieren. Die geballte Gewalt liegt jedoch beim Staat. Er hat ein Gewaltmonopol – und wie er damit umgeht, werde von vielen Menschen zu unkritisch hingenommen, meint der Staatsrechtler Bernd-Christian Funk im derStandard.at-Interview.

derStandard.at: Immer wieder eskaliert die Staatsgewalt, werden Menschen von Polizei und Justiz unwürdig behandelt. Sind die Gesetze mangelhaft, oder werden sie falsch angewendet?

Bernd-Christian Funk: Besonders gefährlich sind Situationen, wo Mängel im Gesetzgebungsbereich mit Fehlern in der Vollziehung zusammentreffen. Ein solches Beispiel ist der sogenannte Maßnahmenvollzug (also die Unterbringung in geschlossenen Anstalten, Anm.) Dort gibt es viele weiße Flecken in der Landkarte des Rechtsstaates. Der Staat beansprucht ein Gewaltmonopol, und das ist auch sinnvoll – aber genau diese monopolisierte Staatsgewalt kann zu einer sehr schweren Bedrohung für bürgerliche Freiheiten, für Grundrechte, für die Gesellschaft werden.

derStandard.at: Ist es dem Gewaltmonopol quasi eingeschrieben, dass es Exzesse gibt?

Funk: Ja. Es kann keine herrschaftsfreien Strukturen geben. Das findet höchstens in Utopien statt, von denen sich aber gezeigt hat, dass sie wenn man versucht, sie zu verwirklichen, meist in entsetzlicher Weise ins Gegenteil umschlagen. Die Frage ist: Wie wird staatliche Herrschaft kontrolliert?

derStandard.at: Müssen BürgerInnen also damit leben, dass es in einem Rechtsstaat zu gewaltsamen Exzessen kommt?

Funk: Nein. Aber man muss damit rechnen. So gut kann ein Rechtssystem gar nicht konstruiert sein, dass es nicht immer wieder zu Fehlentwicklungen kommt. Die Fragen ist: Handelt es sich um Einzelfälle, oder sind das Zeichen für strukturelle Mängel? Beim Tierschützerprozess hat sich gezeigt, dass es auch extreme Systemmängel gibt – erstens beim Gesetz, zweitens in der konkreten Anwendung. Dass man hier überhaupt eine Anklage gemacht hat, das hätte niemals passieren dürfen. Man hat hier eine Todsünde begangen. Normalerweise ermittelt man zunächst und schaut, was es an harten Fakten gibt, und klagt dann an. In diesem Prozess war es umgekehrt. Man hat gesagt: Klagen wir einmal an, und dann schauen wir, was wir an Fakten herausfinden.

derStandard.at: In welcher Situation habe ich größere Chancen, für erlittenen Schaden entschädigt zu werden: Wenn mich ein Passant auf der Straße ohrfeigt, oder wenn mich ein Polizist oder eine Lehrerin ohrfeigt?

Funk: Wenn ein Privater einen anderen beschädigt, dann sind die Chancen relativ gut, Ersatz zu bekommen. Wenn es um Übergriffe des Staates gegen einzelne geht, dann sind die Entschädigungsmöglichkeiten im Prinzip auch nicht so schlecht. Aber es gibt Probleme – siehe wieder der Tierschützerprozess: Da wurde Untersuchungshaft verhängt, es wurde angeklagt, dann hat der Prozess stattgefunden und in zentralen Punkten mit einem Freispruch geendet. Und jetzt sollte man erwarten, dass es einen vollen Ersatz für die Schädigungen gibt. Aber die gibt es nicht. Was hier passiert ist, ist auch eine Form von Gewalt gegenüber den Betroffenen. Da haben wir eine erhebliche Lücke – um nicht zu sagen ein schwarzes Loch unseres Rechtssystems, aus dem die Betroffenen nicht mehr herauskommen.

derStandard.at: Wenn die Entschädigung nach einem Freispruch stark angehoben wird – werden Staatsanwaltschaften in Fällen wie dem Tierschützerprozess dann vorsichtiger sein, weil das Prozesskostenrisiko für den Staat zu hoch wäre?

Funk: In Fällen wie diesen ja. Ich glaube, dass der Prozess dann nicht in der Form stattgefunden hätte. Nun kann man natürlich sagen, dass das ein einmaliger Ausrutscher war – möglich. Man muss sich bewusst sein: Wenn man etwas anklagt, dann braucht man etwas in der Hand.

derStandard.at: Immer wieder hört man von Betroffenen von Polizeigewalt, die vor einer Beschwerde zurückschrecken, weil sie denken, die Exekutive sitze ohnehin auf dem längeren Ast. Zu Recht?

Funk: Es gibt hier sicher ein Ungleichgewicht, das ist gar keine Frage. Laut Dienstvorschriften der Polizei ist zwar jeder Anschein einer Diskriminierung zu vermeiden, sind die Menschen auch verbal korrekt zu behandeln. Wir wissen aber alle, dass es in der Praxis meist sehr anders aussieht. Das beginnt beim Duzen, beim "Hearst, komm her" und geht über mehr oder weniger unverhüllte Drohungen bis zur physischen Gewaltanwendung. Hier befindet sich die Exekutive durchwegs in einer stärkeren Position. Da könnte man einiges tun – zum Beispiel, dass Einvernahmen von vornherein gefilmt werden. Oder dass man die Beiziehung einer Vertrauensperson oder eines Anwalts/einer Anwältin nicht nur für möglich hält, sondern als selbstverständlich annimmt.

derStandard.at: Mit Gesetzesänderungen wäre das Problem gelöst?

Funk: Es ist sicher auch ein Prozess der Bewusstseinsbildungs ausständig. Beispiel Dienstnummern: Wenn jemand sagt: "Geben Sie mir bitte Ihre Dienstnummer und sagen Sie mir, warum Sie hier einschreiten", dann tut er oder sie das mit vollem Recht. Aaber danach kommt meist die Retourkutsche: „Zuerst weis‘ du dich einmal aus!" Die Rechtslage ist hier eindeutig: Es ist auf Verlangen die Dienstnummer und den Grund des Einschreitens bekannt zu geben, es gibt das Recht, geltend zu machen, was man für wichtig hält. Das ist rechtlich alles garantiert, aber in der Praxis heißt es oft "Ruhe" oder "Gusch". Man müsste schauen, in der Exekutive ein höheres Maß an Toleranz zu fördern. Das ist eine Ausbildungsfrage, dass beim einzelnen Beamten nicht gleich der Eindruck entsteht: „Das richtet sich alles gegen mich" – sondern dass es der Ausdruck von Bürgerrechten ist. Es müsste selbstverständlich sein. Die Rechtsordnung ist da ganz gut entwickelt, nur die Praxis bleibt zurück.

derStandard.at: Wo sehen Sie denn in der österreichischen Rechtsordnung Überbleibsel der alten absolutistischen Rechtsordnung?

Funk: Das hat man im Großen und Ganzen gut überwunden, das Problem ist eher die Bewusstseinsbildung. Wir sind immer noch eine weitgehend autoritäre Gesellschaft. Vor nicht allzu langer Zeit hat immerhin ein hochrangiger Landespolitiker, der für Bildungsfragen zuständig war, gemeint, eine kleine Ohrfeige wäre für Kinder kein Nachteil. Da müsste es einen Aufschrei geben. Anderswo wäre der Betreffende als Regierungsmitglied eines Landes wohl nicht mehr tragbar.

derStandard.at: Warum ist das so?

Funk: Es gab hier keine bürgerliche Revolution, alles ist von oben gekommen – erst vom Herrscherhaus, dann von den Parteien. Wir sind schon eine stark autoritätsgläubige Gesellschaft geblieben.

derStandard.at: Was sind heute die blinden Flecken im Rechtsstaat, wo wir in 30 Jahren sagen würden: "Unglaublich, dass man das damals einfach so hingenommen hat"?

Funk: Schwer zu sagen. Aber all die Bereiche, in denen Menschen in ihren Freiräumen beschränkt sind, siehe Pflegeheime, geschlossene Anstalten, Jugendheime, Schulen – überall dort, wo Menschen in einer speziellen Abhängigkeit von anderen sind, überall dort muss man damit rechnen, dass es solche Fehlentwicklungen gibt. Auf lange Zeit werden wir uns mit diesen Verhältnissen auseinandersetzen müssen.

derStandard.at: Ist der Umgang mit Minderheiten auch so ein blinder Fleck?

Funk: Das ist ein ganz großes Problem. Es gibt eine latente Ablehnungsbereitschaft bis hin zur Gewaltbereitschaft gegenüber allem, was uns fremd ist. Da gilt es, Bewusstsein zu bilden, das beginnt schon bei der Sprache, da ist noch viel zu tun. Die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, wonach gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht die Zeremonie am Standesamt beanspruchen dürfen, mag juristisch vertretbar sein. Aber wenn man will, ist auch das eine Form von Gewalt, in einem sehr weiten Sinn. Die Gesellschaft sagt: "Wir sperren euch da aus." Ich persönlich bedaure diese VfGH-Entscheidung – sie hätte rechtlich vertretbar genauso anders ausfallen können. Und ich kann mir vorstellen, dass dieses Thema in zehn Jahren kein Problem mehr sein wird – weil einfach niemand mehr etwas dran finden wird, wenn völlig freie Wahl besteht, wie man seine Partnerschaft gestaltet. Ich glaube, dass wir hier mitten in einer Entwicklung sind – hoffentlich. (Maria Sterkl, Anita Zielina, derStandard.at, 18.11.2012 – Langfassung von: Österreichs Autoritätssehnsucht schadet dem Rechtsstaat, erschienen im STANDARD am 16.11.2012)