Das, was erfolgreiche Menschen ausmacht, ist die Eigenständigkeit, die sie entwickelt haben. Sie fanden in ihrer Entwicklung die Chance, vieles zu probieren, Fehler zu machen, Einsichten zu gewinnen, eigene Interessen zu entwickeln. Wie wichtig das ist, darauf wies auch kürzlich der Genetiker Markus Hengstschläger in seinem Buch "Die Durchschnittsfalle" hin.

Zwischen Anpassung und Aufsichtspflicht

Doch all das ist es nicht, was unsere Schulen bieten. Vom Kindergarten bis zur Matura wird Anpassung erwartet. Der ideale Schüler erfüllt die stillschweigenden wie auch die manifesten Erwartungen seiner Lehrkräfte. Der ideale Schüler gibt alles wörtlich so wieder, wie der (die) Lehrer(in) es erklärt hat, macht keine Fehler und befolgt alle Anweisungen.

Vielen Lehrer(inne)n ist so viel Anpassung ein Gräuel, sie wünschen sich mehr Leben in der Schule, doch da gibt es auch noch die Aufsichtspflicht. Man denke nur, der Lehrer/die Lehrerin lässt Schüler alleine - also unbeaufsichtigt - an Sportgeräten üben, durch den Wald laufen oder ein leerstehendes Gebäude erkunden. Für jedes kleinste Missgeschick der Schützlinge muss er/sie sich - im schlimmsten Fall vor Gericht - verantworten. Die Folge ist, Lehrer(innen) vermeiden jegliches Risiko und würden die Schüler am liebsten am Halsband wie Hunde durch die Natur führen. Die Lehrpersonen sind verpflichtet, alles vorher auf eventuelle Gefahren hin zu testen.

Jahr für das selbe Lernmaterial

Die Folge ist, Schulen vermitteln nicht "Lebenskunde", nicht gefährliche Realität sondern letztlich nur harmlose aber tödlich langweilige Konserven: Wiedergabe von längst Vorgedachtem, genau portioniertes Lernmaterial, das auch genau auf die Altersgruppe abgestimmt sein muss. Alle Spiele verlaufen streng nach den überlieferten Regeln, Abweichler werden sofort zurechtgewiesen. Fehler machen wird mit schlechten Noten sanktioniert. Die Folge ist: Viele Schüler machen lieber nichts, als etwas das Risiko eines Fehlers einzugehen und sie nehmen sich dadurch die Chance auf echten Wissenszugewinn.

Wer wundert sich angesichts dieser Tatsachen, dass Schüler den kindlichen Forscherdrang verlieren und damit auch alle Lust an der Schule?

Lieber einfach, als unkalkulierbar

Doch es ist an den Universitäten - also den Forschungsstätten - nicht unbedingt besser. Ich hatte vor zwei Jahren die Gelegenheit, an einem Doktorandenseminar teilzunehmen. Dort wollte eine Dissertantin eigene Feldforschung betreiben. Die Betreuerin hat ihr das sofort ausgeredet. "Viel zu viel Arbeit! Völlig unkalkulierbar! Mach doch einfach eine Literaturarbeit, das hat sich bewährt, du bekommst deinen Titel, und alles passt!"

Die Idee der Studentin war bestechend, sie wollte Unterrichtsmethoden vergleichen. Das Risiko dabei war, dass ihr Ergebnis zu den Dogmen der gängigen Lehrmeinung in Widerspruch geraten konnte. Sie hätte echt etwas Gültiges erforschen können, anstatt eine ungeprüfte, vielleicht auch fragwürdige Lehrmeinung wiederzukäuen. Doch die Chance wurde vertan. So läuft Wissenschaft - hoffentlich nicht in allen Fächern.

Konserven also vom Kindergarten bis zur Uni! Was muten wir unserer Jugend zu? Wie herrlich motiviert sind im Vergleich dazu Berufsschüler(innen), also Lehrlinge, denen ihr Beruf ordentlich beigebracht wird, die bald auch selber etwas ausprobieren können und die stolz sind auf ihre Leistungen. Aus "Drop-outs" des Regelschulsystems werden vielfach "High Performer" im erlernten Beruf.

Ganztagsschule als Chance

Die Verweigerungshaltung, mit der mächtige Politiker die Ganztagsschule verhindern, ist vor dem Hintergrund der aktuellen Schulrealität zwar verständlich, doch den berufstätigen Eltern gegenüber völlig verantwortungslos. Nur weil das Geld für eine ordentliche Jugendbetreuung nicht da ist, die Kinder berufstätiger Eltern sich selbst und dem "Erzieher" Fernseher zu überlassen, ist keine Lösung.

Die Ganztagsschule/Ganztagsbetreuung ist eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit und eine große Chance, die oben beschriebene Schulsituation zu verbessern, doch sie bedarf in der Durchführung radikaler Reformen:

· geeignete Räumlichkeiten, die freie Gestaltung ermöglichen;
· Material, das eigenständiges Erleben ermöglicht;
· eine Lockerung der Aufsichtspflicht;
· spielpädagogisch ausgebildetes Personal;
· Psychologen, die jederzeit verfügbar sind und bei schweren Krisen der Kinder zur Verfügung stehen.

Für die Einführung der Ganztagsschulen müssen die Träger also Geld zur Verfügung stellen und die Gesetzgeber die Rahmenbedingungen jugendfreundlicher gestalten. Eine gesunde, forschende Jugend sollte uns das wert sein. (Franz Pöschl, Leserkommentar, derStandard.at, 13.11.2012)