Ein ganzes Viertel mit zehntausenden Wohnungen entsteht beim neuen Wiener Hauptbahnhof. Bis jetzt gibt es dazu kaum Regung aus der Bevölkerung.

Mehr Anschauungsmaterial finden Sie in der Ansichtssache: Wo Wien ordentliche Stadtplanung braucht

Foto: Robert Newald

Mehr Bürgerbeteiligung könnten auch andere Gegenden in Wien gebrauchen, findet Kulturtheoretikerin Elke Krasny.

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Wien - Wien ist anders. Und das nicht nur im Sinne von Hans Weigel, der den Ausdruck 1977 geprägt hat. Während in den vergangenen 50 Jahren weltweit 370 Städte mindestens zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben, wächst Wien mit jedem Jahr um rund 20.000 Bewohner. Doch wie geht die Metropole mit den Herausforderungen um, die Wachstum mit sich bringt? Bei einem Spaziergang zu wichtigen Plätzen charakterisiert Elke Krasny, Stadtforscherin und Kuratorin der Ausstellung Hands-On Urbanism im Sommer im Museumsquartier, das Wien von heute.

Start ist der Morzinplatz im ersten Bezirk, wo während des Nationalsozialismus die Gestapo im ehemaligen Hotel Métropole untergebracht war. Die Begegnung mit der Vergangenheit fällt schwer, fast verschämt auf der Rückseite des Leopold-Figl-Hofes, eingezwängt zwischen einem Sonnenstudio und einem Möbelgeschäft, findet sich die Gedenkstätte. Wer sie betreten will, muss erst einen Termin vereinbaren, steht auf einem Zettel.

"Ich habe Morzin- und Schwedenplatz gewählt, weil es auch für viele Touristen der Eintrittspunkt ist", sagt Krasny. Zukunftsfähigkeit bedeutet auch, einen würdiger Umgang mit der eigenen Geschichte zu finden. Am Morzinplatz gibt es immer wieder Versuche, etwa die geplante Aufstellung eines Mahnmals für verfolgte sexuelle Minderheiten im Zweiten Weltkrieg. Wer es nicht weiß, sieht es kaum: Die Wiese ziert ein Schriftzug aus Unkraut. "Zu spät" steht da. "Ein Denkmal muss nicht in Stein gemeißelt sein", meint Krasny. Auf diese Weise könnte der Ort künstlerisch immer wieder neu bespielt werden.  

Auf der gegenüberliegenden Seite ortet Krasny "Investitionslogik". Das von Jean Nouvel designte Sofitel markiert den Dachausbauboom, der in Wien seit Jahren Einzug hält. Das Haus daneben ist wiederum ein Gemeindebau. "More of the difference", fasst die Stadtforscherin zusammen: Stadt ist heterogen. Aber ist sie allen zugänglich? Wer im Sofitel in die Bar will, muss einige soziale Spielregeln beherrschen - von der Rezeption bis zum Empfang. "Die Verhältnisse dürfen sich nicht zu sehr verschieben." In einer gerechten Stadt muss es Ausgleich zum Exklusiven geben. Nur: Mit wem und vor allem wie erarbeitet man die Verhältnisse? Denn im Gegensatz zu schrumpfenden Städten gibt es wenig Forschung über wachsende Metropolen in Europa.

"Partizipation darf von Politikern nicht als Übung verstanden werden", sagt Krasny. Umgekehrt sei das Interesse der Bürger an direkter Demokratie nicht überall so groß wie etwa beim Parkpickerl. "Da geht es um Individualinteressen. Aber ich wundere mich, dass es so wenig Teilnahme am neuen Zentralbahnhof gibt."

Ignorierter Hauptbahnhof?

Beim Südtiroler Patz entsteht derzeit einer der größten Verkehrsknotenpunkte Europas - was in Deutschland wochenlange Proteste ausgelöst hat (Stuttgart 21), vollzieht sich in Wien vollkommen ungestört. "Nicht, dass es Proteste als Form der Teilnahme geben muss, aber es passiert gar nichts", meint Krasny. Wie auch am Schwedenplatz gibt es hier Angebote, sich zu informieren und einzubringen. 

Am Bahnorama-Turm ist nichts los, zwei weitere Gäste kommen mit auf die Aufsichtsplattform, von der man einen Überblick über die Mega-Baustelle bekommt. Ein Schild fordert nach 15 Minuten zum Gehen auf, ein Mitarbeiter sorgt sich, Terroristen könnten Fotos für einen Anschlag verwenden. "Das ist auch so etwas: diese wachsende Angst. Sind unsere Städte wirklich unsicherer geworden?", fragt sich Krasny. Am Schwedenplatz wurden 2005 erstmals mobile Kameras der Polizei installiert, ein Beispiel, das Schule machte. Es sei ein Paradigma, mit derartigen Methoden eine sichere Stadt zu suggerieren.

Ein Identitätsproblem habe wiederum die Lerchenfelderstraße. "Sie schafft es nicht erfolgreich bei sich anzukommen", sagt Krasny. Viele Geschäfte stehen leer, es mangelt ihr an charmanten Lösungen für heiße Sommertage, ebenso wie für Regen. "Man will dort nicht flanieren, dabei würden simple, intelligente Eingriffe viel bewirken." (Text: Julia Herrnböck, DER STANDARD; Video: Maria von Usslar, derStandard.at; 9./10.11.2012)