Lyrik als Weltwissen beinhaltendes Spannungsfeld und wohldurchdachte Bedienungsanleitung für die soziale Wirklichkeit: Stefan Schmitzer ...

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 ... und Helwig Brunner diskutieren über Poesie.

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Rugby. Kennen Sie das Spiel? Ja? Kennen Sie die Regeln? Nein? Zwei streiten sich über Lyrik, Rugby also. Das Treten in alle Richtungen ist erlaubt. Die beiden Teams: in Himmelblau der RUFC Brunner mit Celan, Skácel im Sturm, Rorty, Heidegger in der Defensive. In Rot der ARC Schmitzer mit Brinkmann, Bargeld im Angriff, Adorno, Bourdieu im Aufbau. Ein steirisches Derby: lokal und hart, denn man kennt sich.

Also die Regeln des Lyrikspiels. Der bei Droschl erschienene Spielbericht gemacht / gedicht / gefunden verzeichnet drei Spieldrittel: 1. Wie und wozu über Gedichte sprechen? 2. Wissenschaft und Poesie 3. Die eigene Schreibpraxis. In der Pause eine Demonstration der Spielzüge an ausgewählten Gedichten. Der Aufbau ist gut, man folgt dem Spiel. Brunners Team lässt den Ball an den Rändern zirkulieren, wo sich mit einem steilen Pass auf Celan Räume jenseits des Sagbaren öffnen. Tackling durch Umklammerung ist erlaubt.

Schmitzer reißt mit Bourdieu die etablierte zeitgenössische deutschsprachige Lyrik zu Boden, weist aber jede Schuld von sich. Ihre gesellschaftliche Unsichtbarkeit habe Gründe: Das "textsubjekt als main attraction" auszustellen genügt einfach nicht. Und dann "die Diskurslastigkeit der zeitgenössischen Lyrik". Mit einem Tritt kickt er das ganze Set aus Zwängen des Lyrikbetriebs vom Feld. Statt der stillen Abmeditation von Gedichten seien sozialere Rezeptionsformen wie Performances gefragt, sofern sie etwas bewegen sollen.

Die Himmelblauen kontern: Die dichterische Sprache sei "grenzfühlig", sie sei am besten dort, wo sie mit einfachen Mitteln und auf reflektierte Weise Existenzielles zur Sprache bringt, ohne dass die Gedichte ihren Theorieteil mit sich herumschleppen "wie junge Fische ihren Dottersack", O-Ton Biologe Brunner. Doch Schmitzers Geiwi-Team fährt mit dem Hinweis auf die Spielregeln dazwischen: Gedichte sind eine auf Konventionen beruhende Textsorte. Da mit Sprache symbolisches Kapital bewegt wird, ist Arbeit am Sprachbewusstsein angesagt. Gedichte, diese Albträume des Systems, müssen die Bedingungen des literarischen Felds reflektieren und darauf zurückwirken.

Nur: wozu das ganze Lyrikspiel? Nach Brunner ist nur die poetische Sprache in der Lage, "hoch potenzierte Spannungsfelder aufzubauen, die entscheidend mehr Weltwissen beinhalten" als andere Diskursformen. Schmitzer will mehr, nämlich "wohldurchdachte bedienungsanleitungen für die soziale wirklichkeit".

Nun zu den Spielberichten der Teams. In Brunners Prosagedichtband Vorläufige Tage tritt uns eine hohe Sensibilität für die prekäre Offenheit des Augenblicks entgegen, der sich in der nächsten Sekunde als gelebtes Leben niederschlägt: "Schon hast du so, nicht anders geworfen, schon bist du kein anderer mehr geworden." Wir werden Zeuge der ebenso zarten wie gewaltigen Momente einer beginnenden Liebesbeziehung, wenn alles noch Skizze und Entwurf ist: "Vorläufige Sätze sind es, die dich genau beschreiben." Brunner ist ein Dichter, der überlegte Form entscheidungen trifft, und traut wie Baudelaire dem kühler geschmiedeten "Poème en prose" die notwendige Flexibilität zu, das moderne Empfinden adäquat abzubilden. Trotz der starken Reflexivität der Gedichte werden die Texte überraschend konkret: "Die Zeit habe ich an ihrem Duft als Wurst erkannt." Seinen Witz lässt der Autor aufblitzen, wenn er sich kreativ verhört, im Radio von "Dichterverkehr" die Rede ist oder der Tankwart ihm einen neuen "Dichtkopf" empfiehlt.

Schmitzers Dress mit einem stacheligen Stern auf Sozi-Rot lässt keinen Zweifel an der Stoßrichtung: Hier begehrt einer auf und artikuliert eine Wut und Unzufriedenheit, die uns Lethargikern nottut. Der Titel scheiß sozialer frieden ist ein Zitat aus dem Gedicht einige flüche, dessen therapeutischer Effekt nicht zu unterschätzen ist. "rant-modus" nennt Schmitzer seinen Empörungs gestus.

Und hier ist auch das poetische Grunddilemma angelegt: Wie verträgt sich das Eh-Bescheidwissen, "das ist die welt / diese sammlung an kuhblöden blicken", mit einer differenzierten Begegnung mit eben dieser Welt? Oder: Ab wann sitzt man den eigenen Theorien auf? Das ist die Fallhöhe, die sich Schmitzer selbst zumisst, an ihr wächst er, manchmal stürzt er ab. Im besten Fall öffnen seine Texte Türen zu Aspekten unserer Wirklichkeit, die bis jetzt poetisches Brachland waren, "dieser zungenfeuchte bahnhof in berlin, / die wölbungen der hüftkomplexe, blublap", finden sich eindringliche Bilder wie Pawlows Hund, der "klick klack klackt der krallenfuß / trip trip tropft der speichelfluss" durch die Laborgänge trabt. Brachiale Wortgewalt trifft auf Zartheit, intime Nachtaufzeichnungen auf ihre Produktionsbedingungen. Als Aufklärer ist Schmitzer ein Verfechter des demokratischen Pop: gesprochene Sprache, englische Einsprengsel, Loops, der Beat. Das ist hip, das ist Rugby. Auf die performative Umsetzung auf Lesungen darf man gespannt sein.

Und was hat das mit Rugby zu tun? Wie gesagt: Lyrik. Sie kennen das Spiel? Ja? Sie kennen die Regeln? Nein? Hier haben Sie drei Bücher, lesen Sie, spielen Sie mit.     (Udo Kawasser, Album, DER STANDARD, 10./11.11.2012)