Ein Meisterwerk über Umbrüche, die Bürde der Erinnerung und kupplerische Krokodile.
Wien - Von einem Krokodil gefressen zu werden, das ist in diesem Fall noch keine Tragödie. Miguel Gomes' sich einfachen Zuordnungen verweigernder Film Tabu handelt vom Exzess und vom Verschwinden zugleich, liegt mithin in einer Grauzone, in der es keine Tatsachen, aber versteckte Übergänge gibt. Der koloniale Abenteurer, den man zu Beginn sieht, ist ein Mann, dem sein Herz ob des Todes seiner Geliebten zu schwer geworden ist. Er schleppt sich mit unnachahmlich hängenden Schultern durch eine auf Schwarz-Weiß-Film gebannte afrikanische Wildnis. Was am Ende der Szene von ihm übrigbleibt, ist vielleicht nur ein Gefühl: "saudade" sagt man in Portugal zu dieser speziellen Form von Melancholie.
Gomes verknüpft in Tabu die Kolonialgeschichte Portugals mit einer Hommage an das Kino - vermittelt wird dies unter anderem durch eine Liebesgeschichte, die es eigentlich nicht geben dürfte. Drängen romantische Abenteuerfilme wie Jenseits von Afrika das Politische an den Rand, so zeigt es Gomes nun als störrisch wirksame Kraft - es beeinflusst das Geschehen, obwohl sich die Protagonisten über den Ernst ihre Lage nicht im Klaren sind. Die mit 1974 nur zeitlich bestimmte afrikanische Kolonie ist das "Paradies", das in Tabu am Ende auseinanderbricht - der Titel ist Reverenz an den gleichnamigen Film von Murnau/ Flaherty von 1931. Es ist eine Welt voller Fehler, in der Gomes jedoch das prekäre Glück eines Paares heraufbeschwört.
Wie schon seine vorangegangene Arbeit, Aquele Querido Mês de Agosto, besteht auch dieser Film aus zwei Teilen. Diesmal verhalten sie sich wie zwei Lebensalter zueinander. Im ersten, nüchternen Abschnitt, den Gomes als "Katerstimmung" angelegt hat, ist Pilar (Teresa Madruga) die zentrale Figur, eine ältere Frau, die sich in Lissabon in Sachen christlicher Nächstenliebe engagiert und sich für Avancen aller Art unempfänglich zeigt.
Einen Vorgriff auf den zweiten Teil, der zeitlich davor in Afrika spielt, stellt Pilars Verhältnis zu ihrer Nachbarin Aurora (Laura Soveral) dar. Diese lebt mit einer dunkelhäutigen Haushälterin zusammen, in ihrer Wohnung finden sich vielerlei Echos auf ihr früheres Leben in den Kolonien. Aber die Beziehungen reichen über Dinge hinaus: ins Bildliche, in filmische Bewegungen. Bis ins Filmmaterial hinein erzählt Gomes von Erinnerung, von der auch trügerischen Beharrlichkeit des Vergangenen im Jetzt.
Im zweiten Teil des Films hat er dafür eine genuine, schöpferische Form gefunden: Alles ist gleichsam vorvergangen. Tabu evoziert die verbotene Liebesgeschichte von Aurora (Ana Moreira) und Ventura (Carloto Cotta) als Meta-Stummfilm - Dialoge sind nicht zu hören, ein Voice-over, Musik und Geräusche dafür schon; auch die Bewegungen der Figuren sind an ein gestisches Repertoire des frühen Kinos angepasst.
Die Verschiebung der Abfolge und die stilistische Entrückung haben den Effekt, dass Tabu ein Film unterschiedlicher Zeiten, Seinszustände, ja, Weltanschauungen wird. Komisches liegt nahe an Dramatischem, das Glück ist die Schwester der Katastrophe, das Feuer des Augenblicks zugleich ein fernes Flackern am Horizont. Diesen großen Film muss man gesehen haben. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 10./11.11.2012)