Europa braucht uns. Nicht nur uns Österreicherinnen und Österreicher, die wir als Brücke zwischen Ost und West in diesem Europa schon lange eine wichtige Rolle haben. Europa braucht uns Bürgerinnen und Bürger. Wir alle müssen den europäischen Gedanken der Einigung und des Zusammenwirkens (wieder) in unsere Köpfe bekommen. Da ist viel verloren gegangen in den letzten Jahren. Da war viel nationales Eigeninteresse, viel Unehrlichkeit und da waren auch viele Zweifel: Sind wir überhaupt (noch) eine echte Union?

Neuinterpretation steht an

Die Zweifel sind berechtigt. Der politische Einfluss Europas geht immer mehr zurück. Gleichzeitig erleben wir eine Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise, deren Ursachen sich wie eine Liste der Schwächen lesen, die diese Union in den letzten Jahren gezeigt hat: Ein Set an Regeln, das wir uns in Maastricht gaben und an das sich schlussendlich niemand gehalten hat. Ein Griechenland, das - zwischen allgemeiner Ignoranz und krimineller Täuschung - so lange an seinem wirtschaftlichen Luftschloss gebaut hat, bis am Ende alle aus den Wolken gefallen sind (und weiter fallen). Dazu ein Großbritannien, das seine Rolle als unsolidarisches Krokodil gerade wieder mit erschreckender Verve neu interpretiert.

Rückkehr ist undenkbar

Manche fragen: Wie kann man ernsthaft für eine solche Ansammlung politischer und moralischer Untugenden, die uns alle in den Abgrund zu lenken droht, Partei ergreifen? Nun, man kann nicht nur, man MUSS klar für die Europäische Union eintreten. Zwar nicht unbedingt in dieser Form und Verfassung. Und vor allem: nicht MIT dieser Verfassung. Aber ansonsten ist das Projekt Europa mittlerweile so tief in unserem Alltag und in unseren Leben verwurzelt, dass eine Rückkehr zu isolierten Nationalstaaten undenkbar ist.

Freilich, mancher Streit oder die Ärgernisse über sinnlose Normen oder Bürokratie überlagern die zentralen Botschaften dieser EU. Doch diese sind zeitlos aufrecht: Frieden, Freiheit und Gemeinsamkeit. Wem das zu "euromantisch" klingt, der denke kurz an früher. Was da alles NICHT ging und wie fragil der Friede eigentlich war, den wir seit 1945 in Europa haben. Oder sollen wir wieder Schutzzölle einführen zwischen Italien und Österreich? Sollen wir wieder die Grenzbalken herunter lassen an der Grenze zu Deutschland? Sollen wir uns wieder die Schädel einschlagen, wie wir es über Jahrhunderte gemacht haben?

Vertrauen ist fast verspielt

Zweifelsohne: Das Elitenprojekt EU schreckt (zu) viele Bürgerinnen und Bürger ab. Zu wenig demokratische Beteiligung. Zu undurchsichtige politische Prozesse. Die meisten kennen den Unterschied zwischen Rat, Kommission und Parlament nicht oder nicht genau. Da helfen auch keine Tonnen von Broschüren. Außerdem handeln viele der politischen Akteure in Europa nach den Prioritäten ihrer Innenpolitik. Wer bald nationale Wahlen schlagen muss, der gibt in Brüssel noch mal schnell den starken Mann oder die starke Frau. Und zwar meistens gegen die gemeinsamen Interessen. So verspielt man auf Dauer Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Da braucht es schlaue Leute, die das Werkl wieder in Gang bringen und den trägen Giganten Europa zu einem transparenten und aktiven Kraftlackel machen. Wie wäre es zum Beispiel ... mit uns? Wir Bürgerinnen und Bürger müssen uns dieser Verantwortung stellen. Wir müssen der Funken sein, der den Reformmotor zum Laufen bringt.

Bürger in die Weichenstellung miteinbeziehen

Wie wäre es, einen Konvent zu wählen, der dann unser Vertrauen genießt und diese Aufgabe wahrnimmt? Wer in diesem temporären Europäischen Konvent sitzt, soll direkt von den EU-Bürgern bestimmt werden. Damit hat dieser Konvent die Stärke und den Rückhalt, ein neues Europa aufzusetzen. Er soll eine Verfassung und einen Vorschlag für die Neuordnung der Institutionen erarbeiten. Und dann lassen wir - auf Basis der Ergebnisse dieses Konvents - die Völker entscheiden, ob sie bei dieser neuen Europäischen Union nun dabei sein wollen oder nicht. Nicht 27 Regierungschefs sollen sich von Krisengipfel zu Krisengipfel hanteln, sondern die Bürgerinnen und Bürger sollen hier für die großen Weichenstellungen mit in die Verantwortung gehen. (Matthias Strolz, 13.11.2012, derStandard.at, )