Fragt man nach den Ursachen der Renaissance brandgefährlicher "Parasiten"-Diskurse des 19. im 21. Jahrhundert*, so scheinen seit etwa 1970 folgende Entwicklungen maßgeblich.

* Nach Ausbau komfortabler Sozialstaaten und Erreichen nachhaltiger Finanzierungsgrenzen hatten sich die politisch Rechte und Tabloids auf die allzu populäre Jagd nach "Sozialschmarotzern", Missbrauch und Betrug bei Arbeitslosen-, Kranken-, Berufsunfähigkeits-, Familien-, Renten- und Pflegegeld fixiert.

* Der Aufstieg des Finanz- und Casinokapitalismus, dessen Arbitragemargen und die Gagen seiner Nutznießer werden zu Recht als parasitär erlebt. Erstens, weil sie unbegreiflich hoch, zweitens von nachvollziehbaren Leistungen weithin entkoppelt und auch bei Totalversagen wie der Royal Bank of Scotland ausbezahlt werden; und drittens, weil sie sich die Hochrisikoprämien privater Zockerei "with other people's money" überwiegend staatssozialistischer Bailout-Überlebensgarantie ("too big, too fat or too smart to fail") verdanken - garantierte Lotto-Jackpots.

* Der Aufstieg des "Winner-takes-all" Starsystems, dessen schwindelerregende Supergagen vor allem im Sport- und Showbiz mehr ambivalente Bewunderung als Neid hervorrufen - etwa 615.000 Euro Wochenlohn selbst für torlose Kicker oder zwei Millionen Dollar pro Woche für einen jahrelang sieglosen Golfsuperstar illustrieren das Problem.

* Parallel dazu entstand die Eloge auf "Lebenskünstler" als "Glückspilze" statt "Leistungsträger", die Wiederentdeckung antiker Diskurse wie des Lukian von Samosata zwischen Simon und Tychiades "als Beweis, dass Schmarotzen eine Kunst sey", "Parasiten" nun sogar in Enzensberger's "Die andere Bibliothek". Und "wo woa mei Leistung?"-Gangster untergruben Arbeitsethik und bürgerliche Leistungsmoral.

* Parasitologie neu, Dwakin's "egoistisches Gen", der naturwissenschaftliche Diskurs über "selfish DNA, the ultimate parasite", mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2001 die Neukonzeption der Welt als Kaskade parasitischer DNA die übereinander gepfropft aneinander schmarotzen und unser Genom kolonisieren, "genomic parasite".

* Der Aufstieg von Ethologie, vergleichender Verhaltensforschung und Soziobiologie, die "Sozialparasitismus" bei Lebewesen studieren.

* Permanenter Rationalisierungsdruck der Managementlehren, mit "zero tolerance" für Ineffizienz und Vergeudung.

* Die mit dem Wirtschaftsnobelpreis geadelten Konzepte asymmetrischer Information und "moral hazard", Bibliotheken füllende Analysen von Markt- und Staatsversagen, des (monopolistischen) "rent seeking" an bestehendem Vermögen durch Wettbewerbsbeschränkung, Klientilismus und Korruption an Stelle kreativ profitsuchender Wertschöpfung von Wohlstand, formulieren politökonomisch, spieltheoretisch, kriminalsoziologisch, bürokratiekritisch und wachsumstheoretisch die gesellschaftlichen Kosten korrupter und parasitärer Arrangements.

In Kürze: Menschen sind niemals "Parasiten", die für das Überleben sog. Wirte "beseitigt" werden müssten. Aber es gibt Verletzungen von Reziprozität und (kapitalistischem) Tausch: statt "etwas für etwas" (gleichwertiger Tausch) "viel für wenig(er)" (Ausbeutung, begrenzt etwas durch die laesio enormis im Römischen Recht) oder gar "etwas für (fast) nichts", Parasitismus par excellence.  (Bernd Marin, DER STANDARD, 10./11.11.2012)