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Vor dem Parteitag flimmern auf Pekings Tiananmen-Platz Propagandafilme der Partei. Das ruhmreiche Bild, das sie zu zeichnen versuchen, entspricht nicht der Wahrnehmung der Bevölkerung, wie eine Umfrage zeigt.

Foto: dapd/Yuan

Im Gegensatz zu dem, was die Parteipropaganda vermittelt, gibt es Kritik an der Führung und den lauten Ruf nach Reformen.

 

Die Kommunistische Partei Chinas gerät kurz vor ihrem Parteitag weiter unter Druck, in eine überfällige Reformdebatte einzutreten. Nach repräsentativen Umfragen sind die Forderungen nach Reformen zum gesamtgesellschaftlichen Anliegen der Bürger geworden. Jeder Dritte glaubt, dass der derzeitige Reformstau in der sich abschwächenden Wirtschaftslage des Landes die allgemeine unsichere Lage noch verschlimmere.

Nach einer Serie von Reform appellen durch hunderte namhafte Ökonomen, Sozialwissenschafter und Publizisten erfahren die Parteiführer nun ausgerechnet auch von ihrem eigenen Kommunistischen Jugendverband, dass das Volk Reformen will. Die in Millionenauflage erscheinende Zeitung des Verbandes Zhongguo Qingnianbao veröffentlichte dazu am Dienstag eine mit Umfrageinstituten durchgeführte repräsentative Befragung unter 11.405 Teilnehmern. Darunter sind alle Alters-, Berufs- und Einkommensschichten in 31 Provinzen Chinas.

Verteilungskrise

72,7 Prozent hoffen, dass Chinas Partei eine neue Runde umfassender Reformen für die kommende Dekade auf die Tagesordnung setzt. 38 Prozent sagen sogar, dass sie das "mit allem Nachdruck ersehnen". Auf der Wunschliste ganz oben stehen für zwei Drittel der Chinesen Maßnahmen, um die Verteilungskrise zwischen Reich und Arm zu entschärfen. 57,8 Prozent wünschen sich statt hohler Worte institutionelle Reformen zur Bekämpfung der Korruption. Jeder Zweite verlangt nach Reformen der Wirtschaftsstruktur (53,3 Prozent), der Verwaltung (47,9 Prozent), der politischen Struktur und in der Justiz (44,6 Prozent).

Am morgigen Donnerstag beginnt unter extremer Geheimhaltung und strengen Sicherheitsvorkehrungen der 18. Parteitag, bei dem ein Generationenwechsel entschieden und der Kurs der nächsten zehn Jahre bestimmt wird. Eine Reformdynamik zeichnet sich allerdings nicht ab. Nach einem Leitartikel im ZK-Theoriemagazin Qiu Shi sei das auch nicht nötig. Es gebe keinen Reformstau, behauptete der Lobartikel auf Chinas Entwicklung - und daher keinen Handlungsbedarf: "Chinas Reform ist nicht im Stillstand und auch nicht auf dem Rückzug. Sie geht weiter."

Immer mehr Bürger sehen das anders. Die Partei erscheint ihnen als eine auf ihre Interessen bedachte, reformresistente Gruppierung, deren Führer vor allem umtreibt, Stabilität und ihre absolute Macht zu erhalten und Skandale um superreich gewordene Familiensippen ihrer Spitzenfunktionäre zu verschleiern.

Bei Chinas Parteiführern müssen die Alarmglocken schrillen, wenn sie lesen, wo die Bürger in den nächsten zehn Jahren die größten Gefahren sehen, wenn sich die Politik der Partei nicht ändert. In der Umfrage des Jugendverbands erwarteten 75,4 Prozent eine "gefährliche Polarisierung" der Gesellschaft. In keinem anderen ostasiatischen Staat hat sich im vergangenen Jahrzehnt die Kluft zwischen Reichen und Armen so vertieft wie in China, stellte gerade die Asiatische Entwicklungsbank fest.

An zweiter Stelle sehen 59,4 Prozent der Bürger unheilvolle Entwicklungen in der Gesellschaft, wenn "Machtausübung nicht begrenzt" werden kann. 52,8 Prozent sehen Gefahren durch den Machtzuwachs von "Interessengruppen" und in einer sich stark "verschlechternden Lage der Umwelt" (52,6 Prozent). Jeden Dritten sorgen die Verlangsamung der Wirtschaftsentwicklung (31,3 Prozent), internationale Spannungen um China und negative demografische Folgen der Geburtenkontrolle und Politik der Ein-Kind-Familie.

Die realistische Umfrage wird von der Feststellung eingeleitet, dass 56,6 Prozent der Teilnehmer Vertrauen in Chinas Zukunft für die kommenden zehn Jahre und 52,6 Prozent Vertrauen in ihre eigene Zukunft zeigten. Mit ihrer detaillierten Analyse über die wirklichen Ängste, die heute die Chinesen plagen, steht sie aber in frappantem Kontrast zu den Glücks- und Heilsverkündungen, mit denen die offizielle Parteipropaganda Peking überflutet hat.

Busladungsweise werden täglich aus Anlass des Parteitags Besuchergruppen in eine Großausstellung über die Erfolge der "wissenschaftlichen Politik" unter Parteiführer Hu Jintao gekarrt. In der "Pekinger Exhibition Hall" dokumentiert die Riesenschau Erfolge beim Staatsaufbau, Wirtschaft, Armee und Partei bis zum Volkswohl in der Halle der "Harmonie und des Glücks".

Auf Tafeln steht, dass der Zufriedenheitsindex des Volkes bei der Bekämpfung von Korruption von 51,9 im Jahr 2003 auf einen Wert von heute 75 Zähler gestiegen sei. Die jüngsten Sozial- und Umweltprobleme oder gigantischen Gesundheitskrisen um gepanschtes Milchpulver und andere giftige Nahrungsmittel werden übergangen. Dafür heißt es, dass sich die Kosten für Krankenbehandlung um 30 Prozent verbilligt hätten. Kleingedruckt steht allerdings darunter, dass das nach Plan bis 2015 erreicht werden soll.

Angst vor Altersarmut

In Interviews, die die Umfrage in der Jugendzeitung begleiten, sorgen sich die Menschen um unbezahlbare Kindergarten- und Erziehungskosten und leiden unter dem Druck einer verschulten Ausbildung. 35-Jährige gestehen Ängste um ihre Renten ein und fürchten die Verarmung im Alter. Studentinnen beklagen, dass gut ausgebildete Frauen keine Jobs finden und sich unter die Massen von Bewerbern für wenige Staatsstellen einreihen müssen. "Ich möchte keine Beamtin werden. Aber nur das bietet Sicherheit."

Chinas Behörden gingen am Dienstag gegen Kritiker vor. Amnesty International erklärte, 130 Menschen seien festgenommen, unter Hausarrest gestellt oder aus Peking weggebracht worden. (Johnny Erling aus Peking /DER STANDARD, 7.11.2012)