Wenn Barack Obama am Mittwochmorgen tatsächlich, wie es die letzten Umfragen prognostizieren, als knapper Wahlsieger erwacht, dann steht ihm eine schwere Zeit bevor. Sein beißender Negativwahlkampf gegen Mitt Romney ohne klare programmatische Ansagen war zwar taktisch geschickt, wird ihm aber das Regieren in einer zweiten Amtszeit nicht erleichtern. Die Polarisierung in Washington hat sich dadurch noch weiter verschärft.

Wie Obama bis Jahresende eine umfassende Budgeteinigung mit den verbitterten Republikanern erreichen soll, ohne die es zu massiven automatischen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen kommen wird, die die US-Wirtschaft in eine neuerliche Rezession zu stürzen drohen, steht in den Sternen. Und selbst wenn die sogenannte "fiscal cliff" durch irgendwelche Tricks vermieden wird, brauchen die USA auch einen glaubwürdigen langfristigen Plan zur Sanierung der Sozialversicherung und zur Eindämmung der Gesundheitskosten. Und wie der aussehen soll, darüber ist die politische Klasse völlig uneins.

Obamas größter Schwachpunkt war sein Umgang mit dem politischen Gegner, dem er weder durch Zugeständnisse noch durch Härte beikommen konnte. Der US-Politik stehen weitere Jahre der Stagnation bevor, in denen sich das Weiße Haus mit einem intransigenten Repräsentantenhaus matcht und die tiefen ökonomischen und sozialen Probleme unerledigt bleiben.

Da könnte ein Präsident Romney im Weißen Haus schon etwas mehr bewegen. Auch wenn ihm die Mehrheit im Senat fehlt - allein sein Überraschungssieg wäre ein Signal, das den Weg zu Steuersenkungen und Ausgabenkürzungen öffnet. Allerdings ist das ein Weg in den Abgrund - zu noch höheren Defiziten, wachsender Ungleichheit, Rückschritten in der Gesundheitspolitik sowie einer gefährlichen Vernachlässigung der Investitionen in die marode Infrastruktur und in die wirtschaftliche Zukunft. Selbst wenn Romney - wie zuletzt im Wahlkampf - in die politische Mitte rücken will, wird ihm dies der selbstbewusste rechte Flügel, der für ihn gelaufen ist, kaum erlauben.

Ist die Supermacht USA daher dem weiteren Niedergang geweiht, wie es ein Blick auf die politische Lage suggeriert? Es gibt auch Hoffnungsschimmer. Die Wirtschaft wächst zwar noch langsam, aber die Erholung dürfte sich in den kommenden Jahren beschleunigen. Die Industrie ist im Aufwind, und die Innovationskraft der vielen neuen Unternehmen ist ungebrochen. In entscheidenden Aspekten bleiben die USA das Modell für die Welt, dem weder Europa noch China viel entgegensetzen kann.

Ein besseres konjunkturelles Klima könnte auch Demokraten und Republikaner wieder etwas näher zusammenrücken lassen - und noch mehr die demografische Entwicklung. Die Republikaner werden sich hüten, die wachsende Zahl von Latino-Wählern erneut den Demokraten zu überlassen. Das könnte den Weg zu einer Einwanderungsreform ebnen und die rhetorischen Angriffe auf den Sozialstaat etwas dämpfen.

Aber auch die Demokraten müssen im Kampf um Hispanics nachjustieren. Unter jenen sind viele religiöse Kleinstunternehmer, die sich weder für Bürokratie noch Homo-Ehe begeistern. Die tiefe Spaltung der US-Gesellschaft ist nicht leicht zu überwinden. Aber erstmals seit langem haben Brückenbauer wieder eine kleine Chance. (Eric Frey, DER STANDARD, 6.11.2012)