Herzog-Punzenberger: Das heutige Bildungsprofil der erwachsenen zweiten Generation ist das Erbe versäumter politischer Maßnahmen.

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daStandard.at: Frau Herzog-Punzenberger, Sie haben an der TIES-Vergleichsstudie, die Schulkarrieren der zweiten Generation in acht europäischen Ländern untersucht, mitgearbeitet. Wie macht sich Österreich im Vergleich zu den anderen Ländern?

Herzog-Punzenberger: Österreich liegt am unteren Ende, was die Diversitätsfreundlichkeit des Schulsystems insbesondere für mehrsprachige Kinder aus einfachen Familien mit Migrationshintergrund betrifft. In den Ergebnissen sehen wir einen über vier Jahrzehnte währenden Stillstand in den Strukturen, fallweise sogar Rückschritte wie zum Beispiel die Streichung von Begleitlehrern, Förderunterricht und der Widmung zusätzlicher finanzieller Mittel pro Kind mit einer nicht-deutschen Erstsprache. Gleichzeitig muss betont werden, dass die gesetzlichen Regelungen ab Beginn der 1990er Jahre einen großen Spielraum für Förderung von Mehrsprachigkeit bzw. mehrsprachiger Kinder ermöglicht hätten.

Dass dies ohne entsprechende Verpflichtung zur Implementierung der Länder, Gemeinden und Schulstandorte, aber auch der Aus- und Weiterbildungsstätten, für das pädagogische Personal nicht die entsprechende Breitenwirkung erzeugt, wurde hier in einem Jahrzehnte dauernden „Experiment" gezeigt. Während einzelne engagierte Akteure innerhalb und außerhalb des Schulsystems einer im Vergleich zu den anderen Ländern kleinen Gruppe von Kindern Bildungsaufstieg ermöglicht haben, hätte eine zu Beginn der 1990er Jahre begonnene kohärente Strategie heute einen vielleicht doppelt so hohen Anteil an BildungsaufsteigerInnen - wie FacharbeiterInnen oder MaturantInnen - in den am meisten benachteiligten Gruppen zur Folge gehabt. Insofern ist das heutige Bildungsprofil der erwachsenen zweiten Generation das Erbe versäumter politischer Maßnahmen.

daStandard.at: Die Vergleichsstudie zeigt auch, dass es insbesondere bei der türkischen zweiten Generation, trotz desselben bildungsfernen Elternhauses, in anderen Ländern besser klappt mit dem Bildungsaufstieg. Warum?

Herzog-Punzenberger: Die wenigsten Hindernisse für Kinder aus "einfachen" Familien gibt es in Schweden. Die Möglichkeit sehr bald in den Kindergarten gehen zu können und sehr spät nach vermuteter Leistungsfähigkeit eingeteilt zu werden, eröffnet die größten Chancen. Auch in Paris zeigen die Nachkommen von Einwanderern aus der Türkei häufigeren Bildungsaufstieg, dort allerdings mit ordentlichem Engagement der Eltern. In Deutschland war es mit der frühen und noch stärkeren Selektion als in Österreich noch schwieriger bildungsmäßig erfolgreich zu sein. Was dabei wichtig ist, sind die Voraussetzungen, die das Schulsystem schafft, etwa wie abhängig Kinder vom Engagement ihrer Eltern sind oder wie viele Übergänge zwischen Schulstufen es gibt, die in schwierigeren Konstellationen immer zu Brüchen führen können. Je weniger Übergänge bzw. je besser der Übergang gestaltet, desto weniger Brüche.

daStandard.at: In Ihren Forschungspublikationen ist oft die Rede von der ethnischen Segmentierung im österreichischen Bildungssystem und am Arbeitsmarkt in Österreich. Was meinen Sie damit?

Herzog-Punzenberger: Ethnische Segmentierung bedeutet, dass in bestimmten Segmenten der Gesellschaft, etwa in bestimmten Berufen oder Aus/Bildungsgängen Herkunftsgruppen deutlich weniger vorhanden sind als es ihrem Anteil an der Gesamtgesellschaft bzw. an den jeweiligen Altersgruppen entsprechen würde. Als Beispiel können sie die typischen Herkunftsländer der Berufsgruppen in einer Schule betrachten, die für die Kinder täglich die Verteilung der Herkunftsgruppen unter den Erwachsenen repräsentieren. In so gut wie allen Fällen ist die Leitung einsprachig deutschsprachig österreichischer Herkunft, selbiges gilt für beinahe alle Lehrer ausgenommen die in einer untergeordneten Unterstützungsrolle befindlichen Muttersprachen- bzw. Begleitlehrer. Schulwarte und Putzfrauen sind oftmals aus den Zuwanderergruppen.

daStandard.at: Diese Woche erregte eine Lehrlingsstudie Aufsehen, in der der niedrige Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Berufsschulen - im Vergleich zur AHS-Oberstufen und der BHS - als problematisch bezeichnet wurde. Einerseits fordert man von der zweiten Generation, mit Matura und Universität abzuschließen, andererseits will man sie als Facharbeiter. Ist das nicht ein Widerspruch?

Herzog-Punzenberger: Es wurde im vergangenen Jahrzehnt mehrfach auf diese erstaunliche Unterrepräsentation hingewiesen, die entsprechenden Zahlen werden aber schon seit 1993 jährlich vom Unterrichtsministerium in der Erstsprachenstatistik der Schultypen veröffentlicht und sind im Internet zugänglich. Darin sehen sie, dass die Steigerungsraten in den vergangenen zwanzig Jahren über den gesamten Berufsschulbereich gemessen minimal waren. Allein, es hat sich kaum jemand darum gekümmert. Dreißig Jahre später sieht das Bild insgesamt natürlich anders aus, weil sich die Anteile zwischen den unterschiedlichen Lehrberufen äußerst unterschiedlich verteilen. Der Kampf um Jugendliche wird allerdings bei der trotz Migration demographisch schrumpfenden Zahl zwischen den Bildungs- und Ausbildungsgängen insgesamt zunehmen. In den größten Herkunftsgruppen gibt es aber noch ein beträchtliches Reservoir an SchülerInnen, die weder eine Facharbeiterausbildung noch eine Matura erreichen, die sich etwa in den berufsbildenden mittleren Schulen finden. Hier gibt es genug Potential für beide Stränge.

daStandard.at: Sie schreiben auch über eine Reproduktion einer ethnisierten Arbeiter- bzw. Unterschicht, die durch das selektive österreichische Bildungssystem noch weiter verstärkt wird. Ist diese Reproduktion sogar gewollt?

Herzog-Punzenberger: Ich denke, dass es mittlerweile genug Kräfte in der österreichischen Gesellschaft und Politik gibt, die erkannt haben, dass eine ethnisierte „Unterschicht" langfristig viel mehr Schaden als Nutzen bringt und auf eine Spaltung der Gesellschaft hinauslaufen würde. Es haben sich in den vergangenen Jahren nicht nur einzelne Akteure, sondern größere gesellschaftliche Gruppen für eine interkulturelle Öffnung stark gemacht und Migration, sprachliche Vielfalt und Diversität als mögliche Stärken der österreichischen Gesellschaft in ihre Entwicklungsstrategien eingebaut. Entsprechende strukturelle Änderungen wirken einer ethno-sozialen Reproduktion nachhaltig entgegen. Nicht zu vergessen sind die Eltern aus den zugewanderten Gruppen, die sehr viel Wert auf Bildung legen und ihre Kinder oft unter großer Anstrengung bei ihrem sozialen Aufstieg unterstützen, sowie Selbstorganisationen in migrantischen Gruppen, wo Lernhilfe stattfindet. Auch daraus resultieren die erfolgreichen Pioniere der zweiten Generation.

daStandard.at: Wie kann das österreichische Schulsystem der Vererbung des geringen Bildungsniveaus der Eltern entgegenwirken?

Herzog-Punzenberger: Auf der strukturellen Ebene geht es um das Recht jedes einzelnen Kindes auf einen Platz in Kindergärten und Kindergrippen aber auch in Ganztagsschulen, so lange diese nicht flächendeckend sind. Mit der Quantität ist es aber nicht getan. Die Qualität muss entsprechend vorhanden sein, d.h. die Ausbildung des Personals einschließlich der Leitungsfunktionen in den Einrichtungen muss entsprechend der sprachlichen und herkunftsmäßigen Vielfalt gesichert werden. Die frühe Trennung nach vermuteter Eignung führt zum Verlust von Potential, eine gemeinsame Schule bis zum Ende der Pflichtschulzeit ist ein wesentlicher Schritt für vermehrten Bildungsaufstieg. Dazu gehört Schul- und Unterrichtsentwicklung, die sich nicht nur an Individualisierung orientiert sondern auch entsprechende Konzepte für mehrsprachige und multikulturelle Klassenzimmer als Standard implementiert.

daStandard.at: Sie sind auch Mitglied des neu gegründeten unabhängigen ExpertInnenrats von SOS Mitmensch. Warum ist solch ein alternativer ExpertInnenrat notwendig?

Herzog-Punzenberger: Oftmals werden WissenschafterInnen und Expertenräte als Feigenblatt eingesetzt. Die Mitglieder können intern zwar sagen, was sie wollen, aber die politischen Entscheidungsträger entscheiden oft auch das Gegenteil. Das ist ihr gutes Recht. Allerdings dient der Expertenrat durchaus zur Legitimierung, da es immer den Verweis gibt, sie hätten im Hintergrund ja einen Expertenrat. Aber wie unabhängig und kritisch sind diese Personen eines Expertenrats? Das muss von Fall zu Fall geprüft werden. Der Vorteil eines unabhängigen Expertenrats ist, dass sich die Mitglieder ihrer Funktion im öffentlichen Diskurs bewusst sind, nämlich Alternativen aufzuzeigen, wo es möglich ist und Machtverhältnisse transparent zu machen. Dies reicht von der Aufbereitung entsprechender Daten oder möglichen Interpretationen verwendeter Daten bis zu Stellungnahmen zu Maßnahmenentwürfen. (Güler Alkan, daSTANDARD, 5.11.2012)