Hans-Werner Sinn, der Chef des Münchner Ifo-Instituts, und Peter Bofinger, Mitglied im Wirtschaftsweisen-Rat der deutschen Regierung, haben beide ein Buch geschrieben. Bofinger hat ein engagiertes Plädoyer für die Gemeinschaftswährung verfasst, wie schon im Untertitel " Deutschland braucht den Euro" zum Ausdruck kommt. Sein Buch ist als Antwort auf Sinns Ausführungen zu lesen, der gleich in seinem Untertitel " Gefahren für unser Geld und unsere Kinder" heraufbeschwört. Sinn plädiert für eine offene Währungsunion und einen - zumindest temporären - Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone.

Das Verdienst des streitbaren Münchner Ökonomen Sinn ist es, ein Thema in den Fokus zu nehmen, das von Politik, Medien und Experten ignoriert wird und so kompliziert ist, dass es sehr schwer zu verstehen ist: die Target-Salden. Dabei handelt es sich primär um ein System für Zahlungen zwischen den Banken der Mitgliedsländer des Euroraums. Wenn aus einem Land Zentralbankgeld in ein anderes Land überwiesen wird, entstehen Verbindlichkeiten und Forderungen gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB). Vor allem die deutsche Bundesbank hat seit 2010 dafür gesorgt, dass die Geschäftsbanken in den sogenannten Krisenländern im Süden weiterhin mit Kapital versorgt werden. Auf mehr als 700 Milliarden Euro sind die Target-Salden der deutschen Bundesbank seit Beginn der Eurokrise in die Höhe geschnellt. Zum Vergleich: Die Haftungen Deutschlands für den Rettungsschirm ESM machen 190 Milliarden Euro aus.

Dem positiven Saldo der Bundesbank stehen beunruhigend hohe Defizitsalden vor allem Italiens und Spaniens gegenüber. Das konstatiert auch Bofinger: "Es ist das Verdienst von Hans-Werner Sinn, nach einem entsprechenden Insidertipp durch den früheren Bundesbankpräsidenten Helmut Schlesinger frühzeitig auf diese Problematik hingewiesen zu haben." Aber: "Es trifft nicht zu, wenn von Ökonomen wie Sinn der Eindruck erweckt wird, dass wegen der Target2-Kredite an Problemländer nun weniger Kredite an deutsche Unternehmen vergeben würden."

Bofingers Prophezeiung: Die Target2-Salden würden sich "dann wieder zurückbilden, wenn ein klares und glaubhaftes Bekenntnis aller Mitgliedsländer zum Fortbestand der Währungsunion gegeben wird".

Sinns Schlussfolgerungen: Deutschland sitzt in der Target-Falle und kann gar nicht aus der Eurozone aussteigen, weil sonst die Verbindlichkeiten fällig werden. Die bisherige Lösungsmodelle, Geld und Haftungen zur Beruhigung der Finanzmärkte "ins Schaufester zu stellen", haben sich für Sinn, wie er jüngst auch in einem Standard-Interview ausführte, als " Fass ohne Boden" erwiesen. Deshalb ist für ihn der einzig "richtige Weg" : Stopp der Hilfsprogramme und temporärer Austritt der Problemstaaten nebst offener Abwertung sowie die Neustrukturierung einer offenen Währungsunion.

Bofingers Replik: Wenn man wie "Sinn fordert, dass bei der Euro-Retterei endlich eine Bremse eingezogen wird, ließe man die Länder mit diesen Zinsen im Regen stehen, was ihren baldigen Austritt aus dem Euro erzwingen würde". Seine Gegenattacke: "Nein, wenn man den Austritt aus dem Euro zur Regel machen möchte und gleichzeitig behauptet, eine Rückkehr zur D-Mark nicht zu wollen, ist man zumindest reichlich naiv. Und es stellt sich dann die Frage, warum die Eurokritiker anstelle eines sukzessiven Auseinanderfallens der Währungsunion nicht den sehr viel einfacheren Weg eines einseitigen Austritts Deutschlands fordern." Das verlangt Sinn tatsächlich nicht. Der US-Investor George Soros hatte dies jüngst in Wien in den Raum gestellt.

Bofinger geht auch auf die in Österreich immer wieder aufflackernde Diskussion zur Schaffung eines Nord- und eines Süd-Euro ein. Für Bofinger wäre das nur "ein größerer D-Mark-Block". Da die weiteren Nord-Euro-Staaten Estland, Finnland, Österreich, Luxemburg und die Niederlande "nur ein ökonomisches Gewicht von 30 Prozent an einem solchen Währungsraum aufbringen würden, wäre eine Konstruktion mit einer gemeinsamen Währung und damit einer gemeinsamen Notenbank nicht mehr sinnvoll".
Trotz unterschiedlicher Schlüsse, die die beiden Volkswirtschafter ziehen, gibt es einige, wenige Übereinstimmungen: etwa ihre Kritik am Verhalten der Europäischen Zentralbank. Beide greifen die "Dicke Berta" an, wie EZB-Chef Mario Draghi die Maßnahme bezeichnete, dass sich Banken über drei Jahre von der EZB Geld zum Leitzins leihen können. "Dicke Berta" hieß während des Ersten Weltkriegs das Geschütz mit dem größten Kaliber. Während für Sinn das Vorgehen der EZB - etwa der Ankauf von Staatsanleihen - ein Bruch der EU-Verträge ist, rechtfertigt Bofinger, in einem Notfall sei dies erlaubt.

Die Reihe lässt sich fortsetzten: Der von den Gewerkschaften in den Sachverständigenrat der Regierung entsandte Bofinger spricht sich für Konjunkturprogramme, mehr staatliche Ordnungspolitik, Eurobonds und eine Transferunion aus; der Marktliberale Sinn tritt für striktere Budgetkonsolidierung in den Südländern, mehr Markt statt Staat und gegen gemeinsame Haftungen und Umverteilungen auf.

Sinn argumentiert zum Teil polemisch, manchmal zu hochgestochen und versucht durch umfangreiches Zahlenmaterial zu beeindrucken. Seine Stärke ist die Analyse, wie es zur Krise kam. Bofinger stellt den Menschen statt den Markt in den Mittelpunkt, argumentiert mit viel Hausverstand und Gutmenschentum.

Wer hat recht? Das zeigen die nächsten Monate. Beide Ökonomen fordern Entscheidungen der Politik und ein Ende des Durchwurstelns. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD; 3./4.11.2012)