Im New Yorker Museum of Modern Art wurden auch fünf historische Arbeiten von Abramovic performt: "Ich habe so viel unterschrieben. Wäre einem der Performer etwas passiert, säße ich heute im Gefängnis."

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2010 im Moma: "The Artist is Present", 721 Stunden lang.

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Anne Katrin Feßler traf die Künstlerin.

Wien - Lachend zeigt Marina Abramovic ihre neuesten Fotos: Die 65-jährige Performance-Künstlerin als Astronautin, bereit, in neue Sphären vorzustoßen. Schau, kichert sie und tippt auf den Orden am Raumanzug: Es ist das österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, das man ihr 2008 verlieh. Im Medium Performance hat Abramovic tatsächlich neue Räume erschlossen, denn seit den 1970er-Jahren geht sie darin an ihre körperlichen und seelischen Grenzen. Eine ihrer ersten kostete sie fast das Leben: In Rhythm 0 (1974) durfte das Publikum Objekte an ihr benutzen und tötete sie dabei beinahe. Es gibt drei Marinas, sagt sie über sich selbst: die Tochter von Partisanen, von großer Willenskraft, das sich nach Liebe sehnende Kind und die spirituelle Frau. Wille, Sehnsucht und Potenzial sind auch das Geheimnis ihrer Arbeit.

Zeit ist ein wichtiger Aspekt in Abramovics Arbeit. Für Balkan Baroque saß sie 1997 auf der Biennale Venedig wochenlang - während des Jugoslawienkriegs - auf einem bestialisch stinkenden Berg Rinderknochen und schrubbte die Gebeine. 2010 trieb sie im New Yorker Museum of Modern Art (Moma) das Sitzen auf die Spitze: 721 Stunden saß sie in vollkommener Stille. 1561 Menschen blickten ihr dabei in die Augen.

The Artist is Present hieß dieses Mammutprojekt, das Matthew Akers für seine ergreifende Dokumentation filmisch begleitete.

STANDARD: Der Film beginnt mit Ihrer Freude über die jetzige Anerkennung, nachdem man Sie vierzig Jahre lang für verrückt erklärt hat. Nun hat Ihre Arbeit viel mit Spiritualität zu tun - warum sind solche Ehrungen trotzdem wichtig?

Abramovic: Sicher, meine Arbeiten sind spirituell. Aber was nützt es, wenn niemand zuhört? Es hat nichts mit Eitelkeit zu tun, man muss diese Popularität für den richtigen Zweck nutzen. Performance muss Mainstream werden.

STANDARD: Im Film sagen Sie, Performance wäre in der Kunst immer nur Alternative geblieben. An anderer Stelle bemerken Sie, dass die Ihnen am häufigsten gestellte Frage - warum Performance Kunst ist - nun bereits seit mehr als zehn Jahren ausbleibt. Ist das nicht der Indikator dafür, dass sie nun Medien wie der Malerei ebenbürtig ist?

Abramovic: Ja. Während meiner Ausstellung im Moma zeigte das Guggenheim Tino Sehgal. Dass sich zwei der wichtigsten amerikanischen Museen zeitgleich der Performance widmen, ist noch nie dagewesen. Performance kommt also nun tatsächlich im Mainstream an. Allerdings nicht in meiner Heimat. In Serbien versteht das noch immer niemand.

STANDARD: Der rumänische Künstler Dan Perjovschi sagt, Performance war in den 1970er-Jahren so beliebt, weil der Körper das einzige Medium war, das immer zu Verfügung stand.

Abramovic: Die 1970er waren eine idealistische Zeit, insbesondere in Osteuropa, wo es weder Geld noch Markt gab. Wir machten Kunst, weil wir daran glaubten. Jetzt, wo wir weltweit in der Finanzkrise stecken, bemerkt man, dass die Performance zurück ist. Sie ist verfügbar und billig. Performance ist wie der Phönix, der sich aus seiner eigenen Asche erhebt. Sie geht und kommt, ist nichts Konstantes. In den 1970ern performte jeder, aber vieles war so furchtbar. Alles, sogar das Auf-die-Straße- Spucken, nannte sich Performance. Als Video kam, wurden Performances, die ursprünglich anderthalb Minuten dauerten, geloopt. Diese Form endloser Performance war jedoch nur konstruiert.

STANDARD: Für die Moma-Performance bereiteten Sie sich intensiv vor. Traten dennoch Dinge ein, mit denen Sie nicht gerechnet hätten?

Abramovic: Die Berge juristischer Auflagen: Bei der historischen Arbeit Luminosity, bei der man auf einem Fahrradsattel hoch oben an der Wand sitzt, wollte man Helm und Sicherheitsgurt verlangen. Oder die Medien: Sie fürchteten bei Imponderabilia, bei der man sich zwischen zwei Nackten durchzwängen muss, die Möglichkeit einer Erektion. In den USA war bereits Janet Jacksons Nipplegate wichtiger als der Irakkrieg. Diese banalen Störungen der Medien wühlten mich auf und schockierten mich. Das Dümmste war jedoch, einen Sessel ohne Armlehnen zu nehmen. Nach drei Tagen dachte ich, ich bringe mich um. Aber ich war zu stolz, um ihn auszutauschen. Die Rippen sackten in meinen Körper. Es schmerzte höllisch.

STANDARD: Als Sie "durch die Tür des Schmerzes" gingen, hätten Sie irgendwann "das Gefühl von Harmonie, etwas Heiliges" verspürt. Gelingt Ihnen das auch mit psychischem Schmerz und Trauer?

Abramovic: Die emotionalen Schmerzen, die ich fühlte, waren mit den Menschen verbunden, die vor mir saßen. Diesen Schmerz konnte ich ebenso kontrollieren wie den körperlichen. Im Privatleben kann ich das nicht. Es ist das Schwierigste in meinem Leben.

STANDARD: Ich dachte dabei auch an eine Performance. In "The Lovers" (1988) liefen Sie und Ulay auf der Chinesischen Mauer 2000 Kilometer aufeinander zu, um sich dann zu trennen. Einer der bewegendsten Momente im Film.

Abramovic: Ja, da mischte sich Performance und Privates. Das ist so hart. Mit allem anderen kann ich umgehen, damit nicht.

STANDARD: Unmittelbar bevor "The Artist is Present" startete, verglichen Sie die Schwierigkeit, die dieses Nichtstun bedeutet, mit dem Kreieren einer "Stille in der Mitte der Hölle". Ist das noch immer der beste Vergleich?

Abramovic: Das Atrium, in dem ich saß, war wie ein Tornado, in dem man Ruhe entwickeln muss. Im ersten Monat passierte nichts. Die Leute gingen vorbei. Im zweiten kamen bereits mehr. Erst im dritten Monat machte es Klick: "Mein Gott, sie ist immer noch da". Dann begann es. Es gab keinen anderen Weg, als es drei Monate zu machen. Solche Langzeitprojekte sind transformativ, aber sie brauchen Zeit. Ich brauchte Zeit, aber auch das Publikum. Es war magisch. Sicher, ich habe Schmerzen gelitten, aber am Ende waren sie vergessen. Ich stand vom Sessel als eine andere Person auf. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 3./4.11.2012)