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Die rasch wechselnden Lichtverhältnisse an einem Spätherbsttag verleihen der normannische Küste bei Etretat eine besondere Dramatik. Diese Strände sind seit jeher viel mehr Schau- als Badeplatz.

Foto: Atlantide Phototravel/Corbis

Der Regen lässt nach. Und endlich: Hinter den grasbewachsenen Hügeln werden abgeflachte Beton-Halbkugeln sichtbar. Wie riesige Käfer liegen sie in den Feldern hinter dem Dorf Longues-sur-Mer. Das muss die Batterie sein. Nach einer Irrfahrt durch eine Straße mit dem Namen "Route du Chaos", die bezeichnenderweise in einem Feldweg endet, sind wir an den Resten des Atlantikwalls angelangt. Hier befindet sich die einzige deutsche Küstenbatterie in der Normandie, deren Geschütze noch erhalten sind.

Eingebettet in Bunker, lugen die verrosteten Kanonen aus massiven Portalen hervor und scheinen noch immer in Richtung Küste zu starren. Jener Küste, an der die alliierten Truppen am 6. Juni 1944 landeten, um in einer halsbrecherischen wie heldenhaften Aktion Westeuropa von den Nazis zu befreien. Die Geschütze von Longues-sur-Mer konnten dagegen nicht viel ausrichten. Der Batterie gelang es weder, ein Schiff der Invasionsflotte zu treffen, noch in Richtung der nahen Landungsstrände zu feuern.

Vorne an der Steilküste verfließen die grau-weiß-blauen Streifen des regenverhangenen Himmels mit den anthrazitfarbenen Kräuselungen des Wassers. Auf der einen Seite kann man hinter den Klippen den flachen Omaha Beach erahnen, auf der anderen die künstlichen Hafenanlagen ausmachen - dunkle Klötze, die wie Wale im Meer liegen und nach der Landung den Nachschub sicherstellten. Ein wenig weiter hinten, am Batterie-Gelände, haben deutsche Soldaten Spuren hinterlassen: In die Bodenplatte eines unterirdischen Bunkers sind die Umrisse eines Pferdes geritzt, ähnlich wie ein Kind es malen würde - bloß mit einem erigierten Penis. Dazu eine Jahreszahl: "1942".

Pferde aus Wollfäden

Wir staunen nicht schlecht, als nur wenige Kilometer entfernt, auf dem berühmten Wandteppich von Bayeux, dieses Bild wieder auftaucht: Das Nazi-Graffito hat eine frappante Ähnlichkeit mit so manchem der zig Pferde aus Wollfäden, die mit Wilhelm dem Eroberer in die Schlacht um England ziehen. Ob die deutschen Soldaten sich tatsächlich davon inspirieren ließen, kann auch Sylvette Lemagnen, Kuratorin des Tapisserie-Museums, nicht beantworten. "Nach Kriegsbeginn war der Teppich nicht mehr öffentlich zugänglich und wurde nur selten gezeigt. Das war etwa 1941 der Fall, als sich eine nationalsozialistische Forschergruppe dafür interessierte", sagt Lemagnen. "Es ist also nicht unmöglich, dass der Soldat von Longues-sur-Mer den Teppich gesehen hat."

Dieser gibt selbst noch einige Rätsel auf: Es ist nach wie vor nicht restlos geklärt, wann und von wem die hinreißend lebendige Darstellung der Eroberung Englands durch die Normannen in Auftrag gegeben wurde. Unbestritten ist, dass die rund 70 Meter lange und 50 Zentimeter breite Tapisserie aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts auch heute noch erstaunlich frisch wirkt. Die grobe Wolle, mit der sowohl Umrisse als auch Flächen gestickt sind, hat nichts von ihrer Farbkraft verloren. Karikatureske Gesichter, schillernde Fabelwesen, groteske Szenen, dynamische Bewegungsabfolgen und ein dramatischer Erzählverlauf auf drei Ebenen machen den bunten Leinwandstreifen zu Recht zum ersten Comicstrip der Geschichte.

Wer auch immer für die actionreiche Bildgeschichte samt nicht nur züchtiger Nebenhandlungen verantwortlich war - die Sticker und Stickerinnen dürften einigen Spaß dabei gehabt haben. Und solange es draußen weiter in Strömen schüttet, geht man gerne auf die Suche nach weiteren erheiternden Details.

Am nächsten Morgen Sprühregen

Der Regen hört nicht auf. Es wird wohl einen Grund haben, dass die 1960er-Jahre-Romanze "Die Regenschirme von Cherbourg" gerade am westlichsten Zipfel der Normandie spielt. Mit Schirm lässt sich jedenfalls der Weg durch die Gassen mit den geduckten Häusern zur fili granen Kathedrale von Bayeux halbwegs trocken zurücklegen.

Heimeliger ist es in einem der Chambres d'hôtes, einer Art von Pensionen, die in den vielen Stadthäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert eingerichtet wurden. So kann man etwa bequem durch die Fenster eines sogenannten Hôtel particulier auf die Place de Gaulle schauen - ohne einen Fuß in die Pfützen des von 150 mächtigen Linden bewachten Parks zu setzen. Hier hielt Charles de Gaulle wenige Tage nach der Befreiung von Bayeux eine Rede, und hier begründete er 1946 die Errichtung der 5. Republik.

Am nächsten Morgen Sprühregen. Der Himmel drückt schwer auf die Mondlandschaft vor dem Pointe du Hoc, einem D-Day-Schauplatz mit entscheidender strategischer Bedeutung. Bombenkrater überziehen wie Pockennarben die Halbinsel, die sich zu einem ins Meer ragenden Felsen zuspitzt. Das Wetter war auch schlecht am Jour J, wie die Franzosen sagen, als hier um 7.10 Uhr US-amerikanische Ranger an Land gingen, um die 30 Meter hohen Klippen zu erklimmen und die deutsche Artillerie auszuschalten. Was wäre mit Europa passiert, wenn das Manöver gescheitert wäre?

Ortswechsel ins Hinterland

Die unmittelbaren Eindrücke lassen sich am besten bei einem Besuch im Mémorial von Caen einordnen. Das Museum macht es durch sorgfältig ausgewählte Objekte, Dokumente und Medien leicht, in die Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall einzutauchen. Es ist egal, wenn darüber die Stunden vergehen - zumal sich die Hoffnung auf einen Wetterwechsel im Dauerregen zunehmend aufweicht.

Vielleicht hilft ja ein Ortswechsel ins Hinterland. Je weiter man sich von der Küste entfernt, desto mehr verblasst die Präsenz des Krieges. Rund um kleine, schläfrige Dörfer spannen sich Kuhweiden, Pferdekoppeln und Apfelplantagen über die Hügellandschaft - analog zu Camembert, Crème double, Cidre, Calvados und Pferdezucht, die zu den essenziellen Grundpfeilern der Normandie gezählt werden.

Bei einer Überlandfahrt durch das Pays d'Auge im Département Calvados und noch weiter im Landesinneren durch den im Département Orne gelegenen Landstrich Le Perche wird verständlich, warum die ländliche Normandie zu einem Sehnsuchtsort für die Pariser Hautevolee und andere Stadtflüchtige geworden ist. Vor der sattgrünen, triefnassen Kulisse gruppieren sich windschiefe Herrenhäuser mit pastellenen Läden, Bauernhäuser im Fachwerkstil, schauerromantische Schlösschen und Gutshöfe.

Die Dörfer, die sich mit Kreisverkehren abwechseln, verdanken ihren spröden Charme weniger einem besonderen Aufputz als der schlichten Beharrlichkeit gegenüber Zeit - und Wetter. An Kirchen und Steinhäusern kriecht die Feuchte in Form von moosig-grünen Schlieren hinauf, als ob die volle Natur damit ihren Standpunkt klarmachen will. Die dörflichen Strukturen scheinen dennoch intakt: In keiner Ortschaft fehlen Boulangerie, Patisserie und Charcuterie. Viele der Herrenhäuser sind schon der wuchernden Wildnis verfallen, andere werden von Zweitwohnsitzern und Aussteigern renoviert oder in Pensionen umgewandelt.

Edeltrödel und Apfelpresse

Die Gegend rund um Alençon, die Hauptstadt des Département Orne, ist bekannt für ihre herbstlichen Antiquitätenmessen, die Brocantes, und die örtlichen Flohmärkte, die Vide-greniers, auf denen sich die Pariser mit antikem Mobiliar und Edeltrödel eindecken. "Ohne diese Märkte würden viele Dörfer aussterben", meint Ulrike Rudolph. Die gebürtige Grazerin hat es der Liebe wegen in das verwunschene Boissy-Maugis verschlagen, wo sie das Bistrot des Ecuries betreibt und österreichische Weine unter die Franzosen bringt. Ihre Freundin betreibt den dazugehörigen Pferdestall.

Dass sich auch junge Normannen sich in den Traditionen wiederfinden, beweist Grégoire Ferré. Der Vater von drei Kindern hat vor vier Jahren beschlossen, einen alten Bauernhof zu übernehmen, um dutzende alte Apfelsorten zu pressen und zu Cidre fermentieren zu lassen. Aus einem Teil davon destilliert er später Calvados. "Es wäre gewinnbringender gewesen, aus den Obstgärten Felder zu machen, aber Äpfelbäume sind einfach schöner", sagt er, während er bei einer Verkostung die Balance der verschiedenen Geschmacksnoten schildert. "Im Apfel liegt die Zukunft", ist er überzeugt.

An den Regen haben wir uns längst gewöhnt. Er legt sich erst, als wir mit einem deftig riechenden Kofferraum voller Weichkäse Richtung Paris aufbrechen. Wir sind nicht böse: Denn der Regen steht der Normandie gar nicht schlecht. (Karin Krichmayr, Album, DER STANDARD, 3.11.2012)