Die Diagnose der US-Philosophin Susan Neiman beinhaltet gleichzeitig die aus ihrer Sicht wichtigste Frage für das 21. Jahrhundert: Aktuell werde die Entwicklung zu sehr von ökonomischen Interessen bestimmt. Das größte internationale Problem des 21. Jahrhunderts sei daher, wie man "ohne Rückgriff auf gewaltsame Revolutionen die Macht des Großkapitals" bremsen könne, "damit wir mehr genuine Demokratie haben".

Wie die Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam im Rahmen einer von der Universität Salzburg veranstalteten "Salzburger Vorlesung" im Gespräch mit Ö1-Journalist Michael Kerbler und Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid formulierte, könne aus moralphilosophischer Sicht Europa 67 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - mit Sozial- und Rechtsstaatlichkeit - nahezu "als Wunder" betrachtet werden.

Amerikanern sei das selbstverständliche Funktionieren des Sozialstaates in Europa kaum begreiflich zu machen. Genau hier liege die antieuropäische Haltung der US-Neocons begründet: "Europa ist nicht neoliberal regiert - wir haben einen Sozialstaat", sagt Neiman. Als Wahleuropäerin stelle sie fest: "Wir haben die beste Gesellschaft, die je geschaffen worden ist." Neiman plädiert für mehr Stolz der Europäer auf diese Errungenschaften.

In den USA hingegen werde das Leben von "extrem starken Mangelverhältnissen" bestimmt. Es gebe beispielsweise kaum ein öffentliches Verkehrssystem. Und jemand, der nach dem dritten Job müde nach Hause komme, könne sich nicht mehr über politische Vorgänge informieren.

Europäische Nabelschau

Die ehemalige Yale-Professorin Neiman ortet aber eine Frustration "im denkenden Teil Amerikas" in Sachen Europa. Es gebe zwar für Amerikaner wie etwa Präsident Barack Obama keinen Teil der Welt, mit dem man mehr Werte teile, nur habe man in den USA den Eindruck, die Europäer seien zu sehr mit ihrer Nabelschau beschäftigt und unfähig, gemeinsame Politik zu betreiben. Gerade jene in den USA, die Verbündete suchten, hätten das Gefühl, "da ist niemand zu Hause".

Für die USA selbst bleibe die Präsidentschaft Obamas jedenfalls ein Erfolg, selbst wenn dieser die Wahlen am 6. November verliere: Dass eine schwarze Familie ins Weiße Haus einzieht, sei in der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre unvorstellbar gewesen.

Für eine zweite Amtszeit Obamas erwartet Neiman, dass dieser mehr Gestaltungsfreiheit haben werde. Allerdings brauche es, beispielsweise um den Drohnenkrieg zu beenden, "auch mehr Druck von links" auf Obama.

Weniger moralische Probleme als mit dem Drohnenkrieg, bei dem Menschen aus geheimen Computerbunkern zum Abschuss freigegeben werden, hat die Philosophin mit Guantánamo. Obama habe das Gefangenenlager schließen wollen, aber kein Staat wollte die Insassen aufnehmen. (Thomas Neuhold /DER STANDARD, 2.11.2012)