"Obacht, Populisten! Philosophieren in der Schule fördert selbstbestimmtes Urteilsvermögen, sagt Christa Runtenberg."

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STANDARD: Gegenwärtig ist viel die Rede davon, die Philosophie in Form von Ethikunterricht in die Schulen zu bringen. Könnten philosophische Handreichungen auch für die Politik hilfreich sein?

Runtenberg: Ja, auf jeden Fall. Nicht nur die Ethik, sondern die Angewandte Philosophie insgesamt könnte Konzepte, aber auch Diskursformen entwickeln, wie man philosophische Themen mit nichtphilosophischer Öffentlichkeit diskutieren kann.

STANDARD: Was könnte das sein?

Runtenberg: Man könnte kleinere Gesprächsformen wählen, die es auch schon immer öfter gibt, zum Beispiel philosophische Cafés, Kneipen-Themenabende, kleinere Diskursprojekte, in deren Rahmen man ein bisschen mehr Zeit hat. In einem solchen Projekt redet man dann von einem Tag bis zu einer Woche über philosophische Fragen, aber auch über Fragen der Politik, etwa über Themen aus Enquete-Kommissionen, die Anhörungen machen.

STANDARD: Korrespondiert das mit dem immer öfter formulierten Wunsch der Bevölkerung nach mehr politischer Mitbestimmung?

Runtenberg: Sicherlich. Die Angewandte Philosophie hat ja zum Ziel, im Sinne von mehr Demokratie kritische Öffentlichkeit zu bilden, und das trifft, wie unsere Erfahrungen zeigen, auf sehr großes Interesse. Themen wie Präimplantationsdiagnostik oder Stammzellenforschung etc. interessieren ja sehr viele Menschen. Und die sind dann meistens unglücklich, wenn nur die Politik oder nur der Nationale Ethikrat darüber befindet.

STANDARD: Gibt es heute mehr Bedarf an philosophischer Ethik? Stichworte: Schönheits-OPs, Klonen, Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe ...

Runtenberg: Der Bedarf ist durch die naturwissenschaftlich-technischen Fortschritte tatsächlich größer geworden. Wir stellen aber auch fest, dass im Bereich theoretischer Philosophie Fragen wie "Was ist eigentlich ein Experte? Was zeichnet Experten als Experten aus? Was können Zeugnisse wirklich aussagen?" auch für die Öffentlichkeit interessanter werden und dass gewünscht wird, dass die nicht immer nur im akademischen Bereich diskutiert werden.

STANDARD: Sollten sich Philosophen also mehr in die politischen Diskurse einbringen?

Runtenberg: Ich sehe das so, ja. Am Philosophischen Seminar der Uni Münster haben wir ein Profil "Angewandte Philosophie" gebildet, mit genau dieser Intention, lebensweltliche Fragen aufzugreifen, philosophisch aufzubereiten, sodass man mit einer kritischen Öffentlichkeit darüber diskutieren kann. Ich selber stehe in der Tradition der Frankfurter Schule: Philosophie als kritisches Geschäft, im Sinne von Aufklärung und Demokratie. Deswegen denke ich, dass das eine wichtige Aufgabe dieses Faches ist.

STANDARD: Was kann denn Angewandte Philosophie für die Demokratie, die doch ziemlichen Fliehkräften ausgesetzt ist, leisten?

Runtenberg: Sie kann die grundlegenden Kompetenzen, die man als mündiger Mensch und Bürger braucht, sehr forciert fördern: zum Beispiel hermeneutische Sensibilität, die Kompetenz, anderen zuzuhören, oder Argumentationskompetenz. Es gilt dann, wie Jürgen Habermas sagen würde, nur die Kraft des besseren Arguments. Philosophie fördert auch ein selbstbestimmtes Reflexions- und Urteilsvermögen. Auf dieser Basis ist man bestimmten Versuchungen oder Verlockungen gegenüber kritischer. Diese Kompetenzen werden auch in anderen Schulfächern gefördert; dies ist aber auch die genuine Aufgabe eines Ethik- oder Philosophiefachs, das mehr Zeit und Raum dafür hat.

STANDARD: In Österreich steckt der Ethikunterricht mittlerweile im 16. Jahr als Schulversuch fest. Welche Variante präferieren Sie?

Runtenberg: Ich persönlich finde, dass Philosophie oder Ethik mindestens ein echtes Wahlfach sein sollte, wenn nicht ein verbindliches Fach für alle, und Religion sollte zusätzlich gewählt werden, weil ich diese Kompetenzen, die im Philosophie- bzw. Ethikunterricht gefördert werden, für so grundlegend halte, dass das einfach ein wichtiges Fach ab der ersten Klasse ist.

STANDARD: Können oder sollen Religionslehrer auch Ethik unterrichten, oder schließt sich das aus?

Runtenberg: Ich denke, wenn die Lehrerinnen und Lehrer das Fach auch gelernt und studiert haben, schließt sich das nicht unbedingt aus. Qua Religionslehrerausbildung halte ich es aber nicht für besonders gelungen, weil man doch mit den philosophischen Deutungstraditionen und Deutungsangeboten vertraut sein muss, um besser zu hören, was die Kinder so philosophisch denken und sagen.

STANDARD: Gegner kritisieren immer, dass dann der Staat über die Lehrer Werte indoktrinieren würde. Verstehen Sie diese Angst?

Runtenberg: Das darf natürlich auf keinen Fall passieren, aber so ist das Verständnis dieses Fachs, ob es Ethik, Philosophie oder Praktische Philosophie heißt, ja auch nicht. Es geht zwar um grundlegende Demokratiewerte oder Aufklärungswerte, ja. Gebildet werden soll ja aber die eigenständige Reflexions- und Urteilskompetenz der Kinder, das heißt, sie sollen in die Lage versetzt werden, Grenzen und Chancen von Werten selber zu reflektieren. Wenn das Fach dies zu seinem Selbstverständnis macht, muss man keine Angst vor Indoktrinierung haben.

STANDARD: Sie referierten im Rahmen der Vortragsreihe "Ethik vermitteln" des Fachdidaktikzentrums Psychologie – Philosophie der Uni Wien in Kooperation mit dem Standard (Audiodatei nachzuhören auf http://fdz-pp. univie.ac.at). Wer kann denn in zunehmend säkularen bzw. multikonfessionellen Zeiten eine ethische Instanz sein?

Runtenberg: Das Wichtigste ist, dass die Betroffenen selber anfangen zu philosophieren. Das können Menschen vermitteln, die das selber auch gelernt haben. Die Deutsche Gesellschaft für Philosophie arbeitet daran, dass es in ganz Deutschland in jeder Schule ein Fach ab der ersten Klasse gibt, und zwar möglichst als philosophieaffines Fach, egal, wie der Name ist. Ansonsten können das die Philosophen, die sich in solche Debatten einbringen, die in Ethikgremien oder Forschungskommissionen sitzen, auf jeden Fall auch. Kirchen vielleicht auch, aber ich glaube, dass die säkulare Seite vor allem auch für jüngere Leute immer wichtiger wird.

STANDARD: Ist dieser Philosophie-Trend auch Modeerscheinung – quasi intellektuelle Lebenshilfe für nicht unbedingt esoterisch veranlagte Menschen in Krisenzeiten?

Runtenberg: Ich glaube schon, dass da ein Bedarf an Orientierung ist, wenn man sich den Buchmarkt ansieht, was da an Lebenshilfebüchern wie Sokrates leicht gefasst oder Ratgebern auf dem Markt ist, stimmt das sicher. Philosophieren ist aber auch wirklich notwendig, weil diese Tätigkeit, wie der Philosophiedidaktiker Ekkehart Martens sagte, eine " elementare Kulturtechnik" ist. Philosophieren ist genauso wichtig wie Lesen und Schreiben und Rechnen. Und da sie lange nicht diesen Stellenwert hatte, kommt jetzt in sein Recht, was schon lange überfällig ist.

STANDARD: Sie haben zum Thema "Glück und Alltag – Ist Leben eine Kunst?" geschrieben. Ist Leben eine Kunst, die man mit Philosophie im Gepäck besser bewältigt?

Runtenberg: Viele sagen: "Nein, das Gegenteil ist der Fall. Wenn man sich mit Philosophie beschäftigt, wird man unglücklich und hat viel mehr Fragen." Ich glaube absolut, dass Philosophie hilft, und zwar weil man lernt, sich auf eine bestimmte Weise selbstbewusster zu entwerfen, und weil man sein Leben auch humaner gestalten kann, wenn man Traditionen, Strategien und Techniken der Lebenskunst kennenlernt. Aus der Tradition der antiken Ethikkonzepte etwa kann man vieles herausziehen für ein selbstbestimmtes Leben. Es ist schon hilfreich, aber man muss es aushalten, dass man mehr Fragen hat, als man vorher hatte und dass man immer weiter- und neu denkt.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 2.11.2012)