Als Viennale-Tagebuchschreiber habe ich das Privileg, schreiben zu können, worüber ich möchte.

In den letzten Tagen habe ich einige gute Filme gesehen, am nachhaltigsten irritiert hat mich jedoch der Festivaltrailer von Chris Marker. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich klarstellen, dass Irritation für mich einen positiven Wert darstellt. Wenn es ein Kunstwerk schafft, mich zu irritieren, beschäftigt es mich länger und intensiver als ein Werk, welches mein Wohlgefallen oder Missfallen auslöst.

Der "Clip" des kürzlich verstorbenen Filmemachers ist eine komische Lektion in Sachen Filmgeschichte im Miniaturformat. Erst einmal sticht ins Auge, dass der große Essayist auf billige Computereffekte zurückgreift, vor denen jeder andere Regisseur wohl zurückweichen würde wie der Teufel vor dem Weihwasser. Das Ganze sieht aus, wie ein Outtake aus einer CD-Rom.

Unterlegt ist der Trailer mit Klaviermusik, wie sie für Stummfilmvertonungen üblich ist.

Fliegende Lettern stellen die Behauptung in den (3-D-)Raum, dass das Kino von Beginn an Ausschau hielte nach dem "perfekten Zuschauer". In ein kitschiges Krippenmotiv ist anstelle des Neugeborenen ein Fernsehgerät hineinmontiert, auf dem ein handkolorierter Serpentinentanz aus der Frühzeit der Bewegungsbilder zu sehen ist.

Großmeister des Kinos des 20. Jahrhunderts werden nacheinander aufgefahren und stehen ausgeschnitten wie Pappkameraden vor Ausschnitten ihrer Filme. Die dürftige Bildqualität lässt darauf schließen, dass Marker sich dieses Material von Youtube heruntergeladen hat.

Interessant ist, welche Regisseure er auftreten lässt, um diese nach dem " perfekten Zuschauer" suchen zu lassen: Georges Méliès, D. W. Griffith, Orson Welles und Jean-Luc Godard - zwei Franzosen, zwei Amerikaner. (Werfen wir Welles raus und nehmen wir stattdessen Sergei Eisenstein rein, und ich wäre mit der Liste einverstanden.)

100 Jahre später, so Marker weiter, sei er nun endlich gefunden, der "perfekte Zuschauer": Zu sehen ist das Standbild eines vollbärtigen Mannes, der, in eine Decke gehüllt, in einem Innenraum sitzt und auf einen Bildschirm starrt, in dem ein Tom und Jerry-Cartoon läuft. Der lange Bart der Person ist ergraut, auf dem Kopf trägt er eine Mütze, das Gesicht ist nicht zu erkennen. Es liegt die Vermutung nahe, dass dieser alte Mann Anhänger der muslimischen Glaubensgemeinschaft ist. Zu guter Letzt wird noch der Schriftzug "That's all, Bin!" effektvoll ein- und ausgeblendet. (Klassische Animationsfilme endeten mit dem Insert "That's all, Folks!") Das letzte Tableau ist mir rätselhaft, es erschließt sich nicht.

"Bin"? Dies scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass der Abgebildete Osama "Bin" Laden ist. "Bin" bedeutet aber ebenso Mistkübel, Bunker oder Ordner. Aber warum sollte der Terrorist der "perfekte Zuschauer" sein, und wofür stehen Tom und Jerry? Für die Blödmaschine Fernsehen (damit würde man den Schöpfern dieser Figuren, Hanna/Barbera und Chuck Jones ein großes Unrecht antun), für Infantilität, für permanenten, ungleichen Kampf, für die westliche Populärkultur? Alles nur ein Scherz? Aber auf wessen Kosten? Manche Rätsel bleiben besser ungelöst. (Norbert Pfaffenbichler, Spezial, DER STANDARD, 31.10./1.11.2012)