Sänger Caetano Veloso macht die Kerze: Er war Verfechter eines kulturellen Kannibalismus - Rockmusik wurde einverleibt.

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1556 wurde der erste brasilianische Bischof, der Portugiese Pero Fernandes Sardinha, von Indios verspeist. 1928 beschrieb der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade in seinem Kannibalistischen Manifest diesen Akt als Beginn Brasiliens als Nation. Weitere 40 Jahre später dienten die Ideen Andrades einer Gruppe von Musikern um Caetano Veloso und Gilberto Gil als Vorbild für ihren Mix aus traditionellen brasilianischen Musiken und angloamerikanischem Psychedelic-Rock, den sie als "Tropicálismo" oder "Tropicália" bezeichneten.

"Oswald übertrug das kannibalistische Ritual in den Bereich internationaler kultureller Beziehungen", schreibt Caetano Veloso in seiner Autobiografie Verdade tropical (1997). "Diese Idee eines kulturellen Kannibalismus passte den Tropicálistas wie ein Handschuh. Wir ,aßen' förmlich die Beatles und Jimi Hendrix."

Der Dokumentarfilm Tropicália des Brasilianers Marcelo Machado bringt die lang überfällige filmische Würdigung dieser popmusikalischen Revolution. Erwarten darf man keine methodische Einführung in das Musikgenre. Welche spezifische Bedeutung das Wort Kannibalismus für die Tropicálistas hatte, wird etwa aus dem Film nicht deutlich - obwohl der Begriff mehrfach erwähnt wird.

Impressionistischer Zugang

Viele kurz auftauchende Namen dürften nur sehr gut mit brasilianischer Kultur- und Mediengeschichte vertrauten Zuschauern ein Begriff sein. Die schnell getaktete Montage von Archivmaterial, psychedelischen Animationen und Interview-Tönen macht es zudem nicht einfach, den Inhalten zu folgen.

Machados Ansatz ist weniger didaktisch als impressionistisch: Es geht ihm um die Vermittlung eines Zeitgefühls - und das gelingt mit Verve. Man wird förmlich hineingeschmissen in die aufgeheizte Stimmung der späten 60er-Jahre, in der die Tropicálistas einen kulturellen Zweifrontenkrieg führten: Gegen die nationalistische Linke, die die Musiker wegen ihrer Beeinflussung durch die Popkultur des imperialistischen Klassenfeinds angingen - und auf der anderen Seite gegen die Gängelungen durch die Militärdiktatur. Nach einem Putsch innerhalb der regierenden Junta wurden Veloso und Gil Ende 1968 verhaftet, nach Gefängnis und Hausarrest mussten sie ins Exil.

Mit dem Moment des Arrests ändert sich der Rhythmus von Tropicália. Er wird deutlich ruhiger. Erstmals sind auch die Gesichter zu den Interviewstimmen zu sehen. Gil und Veloso geben die "elder statesmen" der Bewegung, ihr Mitstreiter Tom Zé den exzentrischen Künstler, und an Arnaldo Baptista von der genialen Band Os Mutantes sind offenbar einige Drogenexzesse nicht spurlos vorübergegangen.

Der Tempowechsel lässt die Tragik des Exils spürbar werden, aber er macht auch eins deutlich: Wie gerne hätte man schon früher im Film all die tollen Archivaufnahmen in längeren Ausschnitten gesehen. (Sven von Reden, DER STANDARD, 31.10./1.11.2012)