"Wissenschaft lebt von Neugier", sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann.

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Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Der bis heute gültige § 17 des Staatsgrundgesetzes von 1867 ziert noch immer den Aufgang des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien. Die als Spätfolge der gescheiterten Revolution von 1848 proklamierte Freiheit von Lehre und Forschung brachte die österreichischen Universitäten einerseits auf den Stand jener Wissenschaftskonzeption, die seit den Humboldt'schen Reformideen ganz wesentlich das Bild der Universitäten nicht nur in Mitteleuropa geformt hatte, andererseits war und ist diese Bestimmung ein Zielparagraf, der ein Ideal formulierte, nie aber eine Wirklichkeit beschrieb. 

Unabhängigkeit, die der Geist braucht

Seit sich die neuzeitliche Idee der Universität festigte, gibt es den Ruf nach einer unbedingten Freiheit, die allein der Aufgabe und dem Wesen der Wissenschaft und ihrer Vermittlung gerecht werden könne. Gleichzeitig war dieses Bestreben stets von dem Verdacht begleitet, dass eine Institution wie die Universität, die immer auch mit politischen, religiösen und ökonomischen Interessen verquickt war, diese Freiheit nur schwer garantieren könne. Jene Unabhängigkeit, die der Geist braucht, um ohne Rücksicht auf fremde Interessen forschen und das Erkannte vermitteln zu können, schien an Universitäten, gleich ob sie vom Staat oder von Privaten finanziert wurden, nur bedingt gewährleistet.

Die Geschichte der europäischen Wissenschaften ist auch eine Geschichte der Skepsis gegenüber dem institutionalisierten Lehr- und Forschungsbetrieb. Dazu nur einige Beispiele aus der Philosophie, sicher eine diesbezüglich besonders sensible Disziplin. Als der jüdisch-portugiesisch-niederländische Linsenschleifer, Privatgelehrte und Philosoph Baruch Spinoza, unter Kennern schon eine geheimnisvolle Berühmtheit, einen ehrenvollen Ruf an die Universität Heidelberg erhielt, lehnte er diesen mit dem Hinweis ab, dass er nicht wisse, in welchen Grenzen er an diesem Ort philosophieren müsse; 200 Jahre später schrieb der junge Friedrich Nietzsche, soeben als Professor für Alte Sprachen an die Universität Basel berufen, dass zum Philosophieren nur eines notwendig sei: "Freiheit und immer wieder Freiheit." 

Ernsthafte Arbeit nicht möglich

Wenig später quittierte Nietzsche seine Professur und überantwortete sich der unsteten Existenz eines "freien Geistes"; nochmals hundert Jahre später, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, lehnte der Philosoph, Schriftsteller und engagierte Technikkritiker Günther Anders mit Verweis auf Spinoza die Berufung an eine renommierte Universität ab; und im Jahre 2007 kündigte der Philosoph Peter Bieri seinen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin, da ihm die im Zuge der Bologna-Reform veranstaltete Umgestaltung der Universität eine ernsthafte Arbeit nicht mehr garantieren konnte: "Wenn ich mir ansehe, wer im Fernsehen oder in den Zeitungen die Helden sind, so sehe ich nur Fassaden ohne etwas dahinter. Das Gleiche lässt sich an den Universitäten beobachten, die zur Zeit durch die Perspektive der Unternehmensberatung kaputt gemacht werden. Wir bekommen ständig Fragebögen: Wie viele Gastprofessuren haben Sie wahrgenommen? Wie viele Drittmittel haben Sie eingeworben? Eine Diktatur der Geschäftigkeit. All diese Dinge haben mit der authentischen Motivation eines Wissenschaftlers gar nichts zu tun."

Freiheit gefährdet

Natürlich sind das Einzelfälle. Aber vielleicht indizieren sie doch einen Problembestand. Zwar wird rhetorisch an der Freiheit von Lehre und Forschung festgehalten, in der Tat aber ist diese Freiheit immer gefährdet, auch wenn diese Gefährdungen aus unterschiedlichen Richtungen kommen können. Bieris Formulierung von der "Diktatur der Geschäftigkeit" verweist darauf, dass die Einschränkungen der akademischen Freiheit heute weniger von Kirche und Staat vorgenommen werden als vielmehr Ausdruck von mitunter höchst zweifelhaften Kontrollverfahren sind, denen sich die Universitäten freiwillig unterwerfen.

Unter dem Diktat eines künstlich erzeugten Wettbewerbs orientieren sich immer mehr Wissenschaften an Kriterien, die weder für die Qualität noch für die Entwicklung dieser Disziplinen noch für ihre gesellschaftliche Relevanz wirklich bedeutsam sind. Impact-Faktoren, Publikationslisten, Drittmittel, Forschungsreisen, Gastprofessuren, Projektanträge - das mag alles gut klingen und ist vor allem messbar; dem eigentlichen Motor der Wissenschaften, der Neugier, dem Streben nach Wahrheit und der Verpflichtung auf Vernünftigkeit, ist dies allerdings nicht wirklich dienlich. Wo die Freiheit ab-, der Druck aber zunimmt, steigt auch die Tendenz zu risikoloser Mittelmäßigkeit, zur Orientierung an externen Kriterien wie Vermarktbarkeit und Effizienz, zur Ausrichtung an den expliziten und impliziten Vorgaben und Interessen der Drittmittelgeber und, vor allem in den Sozial- und Humanwissenschaften, die Bereitschaft, sich den politischen oder ideologischen Vorgaben zu beugen.

Erpresste Auslandsaufenthalte

Dazu kommt eine Zweiklassenwissenschaft, die die akademische Freiheit gleichsam schon an der Basis beschneidet. Während die Jagd auf die vermeintlich besten Köpfe eröffnet ist und gesuchte Top-Forscher ihre Bedingungen diktieren können, wird auf der anderen Seite ein Wissenschaftsprekariat produziert, das hoch qualifizierten Menschen zumutet, jahrelang über Praktika, Projekte, miserabel honorierte Lehraufträge, klägliche Stipendien, erpresste Auslandsaufenthalte und schlecht bezahlte befristete Anstellungen ihr Leben zu fristen und auf Chancen zu hoffen, die kaum noch gegeben sind. Es spricht nicht gerade für ein gerne beschworenes Wissenschaftsland Österreich, wenn die Hauptangst der Universitäten darin zu bestehen scheint, dass in Österreich ausgebildete Wissenschaftler auch in Österreich eine Karriere anstreben könnten, und unzählige junge Wissenschaftler deshalb in die Frustration oder ins Ausland getrieben werden. Von Freiheit kann dabei nur selten die Rede sein.

Bologna und die daran anschließenden Studienreformen haben aber auch die Freiheit der Lehre einigermaßen beschädigt. Und wieder geschah dies aus einer internen Logik, die auch gar nicht in böser Absicht in Gang gesetzt wurde. Aber modularisierte Studienpläne, hochselektive Studieneingangsphasen, straffe Studienzeiten, penible ECTS-Verrechnungen und verbindliche Voraussetzungsketten gewähren nicht nur den Studierenden wenig Freiraum, sie binden vor allem auch die Lehre. Schon wegen der Gerechtigkeit müssen Lehrveranstaltungen, deren positive Absolvierung darüber entscheidet, ob jemand überhaupt in diesem Studium bleiben kann oder weitere Module absolvieren darf, inhaltlich und didaktisch möglichst ähnlich aufgebaut werden, Massenfächer mit Massenprüfungen rufen geradezu nach standardisierten und automatisierbaren Prüfungsmethoden, die standardisierte Inhalte zur Voraussetzung haben, die Einrichtung reiner Lehrdozenturen ("Senior Lecturers") entkoppelt nicht nur im Einzelfall Lehre von Forschung, sondern legt implizit auch nahe, dass es dabei darum geht, einen Stoff nach standardisierten Vorgaben zu vermitteln.

Wenig Raum für individuelle Gestaltung

Für die individuelle Ausgestaltung der Lehre bleibt da wenig Raum. Vor allem in den Bachelor-Studiengängen wird so ein universitäres Studium zunehmend zu einer durch und durch verschulten Angelegenheit, und wie überall in der Welt garantieren Standards vielleicht ein Mindestmaß an Kompatibilität und ein Minimum an Qualität, produzieren aber ansonsten Mittelmaß und ersticken jede kreative Abweichung. Mag sein, dass es den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht, Universitäten als Einrichtungen zu definieren, in denen in erster Linie anwendbares Basiswissen für einen raschen Berufseinstieg zügig erworben werden soll, aber vielleicht sollte man solche Einrichtungen dann nicht Universitäten nennen - denn diese sind als Orte definiert, an denen wissenschaftliches Wissen in kritischer Absicht in gemeinsamer Arbeit von Studierenden und Lehrenden entwickelt und vermittelt wird.

Sollen Universitäten auch weiterhin - im Gegensatz zu Schulen auf der einen Seite und reinen, oft interessengebundenen Forschungseinrichtungen auf der anderen Seite - durch die Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre gekennzeichnet sein, müssen einige Trends und Entwicklungen der letzten Jahre gestoppt und in eine andere Richtung gelenkt werden. Der interne Kontrolldruck muss gelockert, die Fetischisierung von Rankings, Drittmittelforschung und quantifizierenden Messverfahren muss eingebremst und die Studienpläne müssen so umgestaltet werden, dass die Freiheit im Studium und in der Lehre nicht nur eine Phrase, sondern eine erlebbare Wirklichkeit wird, die sich nicht zuletzt durch jenes Risiko auszeichnet, das der Preis jeder Freiheit ist. Man muss nicht alles planen, kontrollieren und evaluieren, die wirklichen Ergebnisse - neudeutsch: der Output - wissenschaftlicher Forschung und Lehre werden nie vollständig prognostizierbar sein, und das ist gut so. 

Wissenschaft lebt von Neugier

Forschungsprojekte, deren Resultate schon im Projektantrag festgeschrieben werden, sind genauso problematisch wie genormte Lehrveranstaltungen, über die alles schon vorher bekannt ist. Wissenschaft lebt in Lehre und Forschung von der Neugier, und Neugier kann sich nur dort entwickeln und bewähren, wo mit dem Unerwarteten, dem nicht Planbaren, dem Offenen gerechnet und gearbeitet werden kann. Die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft hat eigentlich zur Genüge gezeigt, dass die Freiheit auch dann, wenn sie von dem einen oder anderen missbraucht werden kann, unter dem Strich mehr kreatives Potenzial entfaltet als jede noch so gut gemeinte Vorgaben-, Richtlinien-, Effizienzsteigerungs- und Evaluierungspolitik. (Konrad Paul Liessmann, derStandard.at, 30.10.2012)