Andreas Gloistein: "Die Protagonisten sind heute vor allem die Juroren und die Show ist deren Selbstdarstellungsplattform."

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Der ORF hat bekanntermaßen einen Bildungsauftrag zu erfüllen. Doch wen kann er damit noch vor die Fernsehgeräte locken? Mit Sprachkursen wie anno dazumal dem Russischkurs von Lisa Schüller macht man schon lange keine Quoten mehr. Zu wenig Skandale für ein - dank "Big Brother" & Co. - über die Jahre in Fließbandmanier abgestumpftes Publikum. Da braucht es schon etwas mehr, um den mehr oder weniger bereitwilligen Gebührenzahler vom Griff zur Fernbedienung abzuhalten.

Und was macht man, wenn man keinen Dieter Bohlen hat? Man nimmt, was der deutsche TV-Markt - vermutlich aus guten Gründen - liegen gelassen hat. Wenn nämlich der nächste Skandal, der nächste "Top-Sager" garantiert ist, dann ist auch die Quote sicher. Und von der lebt ein öffentlich-rechtlicher Sender nun einmal genauso wie die Privaten. Die müssen sich nur nicht rechtfertigen.

Der Gebührenzahler bekommt, was der Zuschauer verlangt

Dabei liegt doch auf der Hand, was scheinbar niemandem auffallen will: wenn eine Sendung wie "Die große Chance", in der - wenn es nach dem offiziellen Konzept geht - neue Talente gesucht werden, nur funktioniert, indem man auf der Jagd nach dem nächsten peinlichen Auftritt Menschen vor laufender Kamera wieder und wieder demütigt. Hauptsache, die mit Akribie einstudierten Beleidigungen überholen im Ranking den Kollegen aus Deutschland, dann wird klar, dass die Talente beliebig austauschbare Protagonisten sind und die Show ohne sie im Prinzip auch ganz gut laufen würde.

Der Gebührenzahler bekommt, was der Zuschauer verlangt. Und wenn sich nun "Die große Chance" ohne Sido selbst aus dem Rennen nimmt, wer trägt daran die Schuld? Der schlagende Sido oder der geschlagene Heinzl? Ich denke, es ist keiner von beiden, sondern der Zuschauer, der in Gestalt des schizophrenen Gebührenzahlers die Talentsuche ohne Skandal nicht konsumieren will. Denn der über die Jahre hinweg verrohte Zuschauer mag Gewaltexzesse im TV durchaus, auch wenn diese nicht notwendigerweise blutig enden müssen.

Quote doch nicht um jeden Preis?

Nun hat der ORF die Notbremse gezogen. War das jetzt doch ein Skandal zu viel? Die Quote womöglich nicht um jeden Preis? Anders ist nicht zu erklären, weshalb Sido, der mit seiner Faust (oder war es doch nur die flache Hand?) auf dem Gesicht des - wenig liebevoll "Heinzelmännchen" genannten - Prügelknaben der Nation ausgerutscht ist, nun von der allmächtigen ORF-Jury eiskalt rausgeworfen wurde.

Hat man sich doch am Küniglberg vor nicht einmal einem Jahr eilig bemüht, den legendären Sido-Sager, wir Österreicher hätten da mal einen rübergeschickt, der den Deutschen Ordnung beigebracht hat, als harmlose Ironie herunterzuspielen, welche die Anwesenden mit einem Schmunzeln quittiert hätten.

"Leider wieder zugeschlagen"

Niemand hat sich bisher an Sidos einschlägiger Vergangenheit gestoßen, seine frauenverachtenden Songtexte verpönt, seine schwulenfeindliche Geisteshaltung kritisiert. Sein Aggressionspotenzial wurde als vermeintlich kalkulierbares Risiko bereitwillig akzeptiert - alles der Quote zuliebe und um den gebührenzahlenden Zuschauer bei Laune zu halten.

Der Zweck würdigt bekanntlich die Mittel, und das Mittel hieß in diesem Fall - welch Ironie - Paul Würdig (alias "Sido"). Doch nun hat er die Kontrolle verloren, ganz unwürdig, aber medienwirksam, wie man es von ihm erwartet. Er habe "leider wieder zugeschlagen", gibt Würdig zu und gewährt uns damit Einblick in seine Seele. Herrn Heinzls tote Mutter sei freilich keine Dame des horizontalen Gewerbes gewesen. Dabei ist die pietätlose Beleidigung an sich noch nicht einmal das größte Problem, sondern das Publikum, das sich um den Rüpel-Rapper schart. Und wie praktisch, dass dieses Publikum auch schon den wahren Schuldigen gefunden hat: nämlich das Opfer! Das hat Tradition - nicht nur in Österreich.

Haut das Heinzelmännchen

Und wie einst lassen sich auch heute Massen mobilisieren, die im Dienste der Sache lautstark ihren einstudierten Schlachtruf "Haut das Heinzelmännchen!" skandieren. Du lieber Himmel! Nichts liegt mir ferner, als Sido mit jenem Österreicher zu vergleichen, der auszog, um die Deutschen Ordnung zu lehren (Zitat: Sido). Mich beunruhigt allerdings, wie leicht es im Informations- und Aufklärungszeitalter noch immer ist, Menschen zu blenden, sie von Fakten zu überzeugen, die nicht existieren, und die Vergangenheit vergessen zu lassen.

Am Fall Sido besonders erstaunlich ist, dass selbst der Verursacher die Ereignisse verurteilt. Als hätte jener Österreicher seinen Anhängern erklärt, die Ideologie, die er vertritt, sei falsch, und trotzdem folgte ihm das ganze Volk. "Die große Chance" wird ihrem Namen also mehr als gerecht, doch anders als bei ihrem Vorläufer aus den 1980er-Jahren sind die Protagonisten heute vor allem die Juroren und die Show deren Selbstdarstellungsplattform. (Andreas Gloistein, Leserkommentar, derStandard.at, 30.10.2012)