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Der weltoffene Musikerschaffer von Seelenlandschaften Hans Werner Henze.

Foto: APA/Roland Weihrauch

Dresden - Musikalische Tradition - das war nach 1945 für viele Komponisten eine ungeliebte, schwere Last, die es mit neuen Komponiersystemen (wie dem Serialismus) abzuwerfen galt. Für jemanden wie Hans Werner Henze konnte solch strenger Ansatz letztlich nur bedeuten, in der Rolle des modernen Außenseiters zu landen.

Lyrisch beginnt seine 1. Symphonie (in Summe schrieb er zehn); und schon hier vermag man jenen Henze zu erhören, dem Tradition und deren etablierte und von anderen als ausgeschöpft angesehene Formen kein Feindbild waren. Vielmehr ein respektierter Kulturschatz, dessen Schönheit es galt, mit persönlichen Mitteln und handwerklicher Leichtigkeit in die Gegenwart zu transferieren. Henze wollte "die schönste Musik von heute" schreiben.

Das konnte nur in Konflikten mit der strengen Avantgarde münden: 1957, bei den Donaueschinger Musiktagen, verließen denn auch die Kollegen Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Freund Luigi Nono demonstrativ mitten im Konzert die Aufführung von Henzes Nachtstücke und Arien, nach Texten von Ingeborg Bachmann ersonnen, mit welcher Henze eine lange produktive Freundschaft verbinden sollte (sie schrieb u. a. das Libretto zur Oper Prinz von Homburg).

Es war allerdings nichts Reaktionäres in Henzes Absichten, die ihn zwar zu einem Mann zwischen allerlei Stilstühlen werden ließen, aber auch zu einem der meistaufgeführten Komponisten der Moderne. Henze folgte undogmatisch seiner Systemskepsis und, wie er später reflektierte, der Sehnsucht nach "einem vollen, wilden Wohlklang", der allerdings nichts Harmlos-Konventionelles an sich hatte. Bei allem Streben nach Form und Ordnung kam in Henzes Kunst eine farbenreich-sinnliche Aura zum Vorschein, die sich elegant mit struktureller Komplexität vereinte.

Selbiger wilder "Wohlklang" konnte - im Rückblick besehen - in der Frühphase neoklassizistische Gestalt annehmen. Später musste er politisch engagierte Musik mit dem Hang zum Realismus werden (das dem Andenken Che Guevaras gewidmete Oratorium Das Floß der Medusa) - das war in jener bewegten Phase der späten 1960er, als der Rudi-Dutschke-Freund Henze seine humanistische Utopie kommunistisch färbte und auch in Kuba landete, wo seine 6. Symphonie uraufgeführt wurde.

Schließlich durfte der Sound - in der kompositorischen Spätphase - als sehr persönliche Form der Hinwendung zur Tradition wirken, wie etwa bei der Oper L'Upupa, deren Kantilenen abstrakte Magie versprühten und deren Streichersatz sich spätromantisch gab. Diese märchenhafte Oper wurde bei den Salzburger Festspielen unter der Intendanz Peter Ruzickas uraufgeführt, der von Henze seinerzeit auch die Leitung der Münchner Opernbiennale übernommen hatte.

Bei aller Vielfalt der erprobten Formen war für Henze allerdings das Musiktheater zentral (Henze: "Alles bewegt sich auf das Theater hin und kommt von dort her zurück"): Der 1926 in Gütersloh geborene Sohn eines aus dem Krieg nicht mehr zurückkehrenden Nationalsozialisten etablierte sich mit Boulevard Solitude (1952) und Der Prinz von Homburg (1960). Ein großer früher Erfolg wurde auch Der junge Lord (1965). Insgesamt schrieb Henze mehr als 30 Werke für Musiktheater.

Die letzten Wochen weilte er in Dresden, um Aufführungen seiner Werke beizuwohnen. Er, dem es um die Darstellung von Gefühlen und Seelenzuständen ging, war somit fern seiner Wahlheimat Italien, die er seit Jahrzehnten auf seinem Anwesen "La Leprata" nahe bei Rom genoss. Hans Werner Henze ist am Samstag mit 86 Jahren also gleichsam in der Fremde, in Dresden, gestorben. (Ljubiša Tošic, DER STANDARD, 29.10.2012)