Das Münchner Publikum war erheitert: Elfriede Jelineks neues Stück bietet ein Wiedersehen mit Rudolf Moshammer.

Foto: Münchner Kammerspiele

"Sie werden ins Nichts treten, wenn Sie rausgehen." Die Warnung am Ende des an den Münchner Kammerspielen uraufgeführten Jelinek-Stücks Die Straße. Die Stadt. Der Überfall bewahrheitet sich nicht. Die begeisterten Zuschauer verlassen das Theater in der Maximilianstraße, Münchens Luxusmodemeile, der Jelinek ihre neueste "Sprach-Kollektion" gewidmet hat, und die Straße ist noch da - wenn auch tief verschneit.

Wie konnte Johan Simons, Hausherr und Regisseur, nur ahnen, dass ihm die Natur derart augenzwinkernd zur Seite springen würde, als er eine mit Schnee und Eis bedeckte Straße für die Bühne ersann?

Doch augenzwinkernd ist an diesem Abend einfach alles, der Text, bei dem sich wieder einmal bewahrheitet, dass der österreichischen Nobelpreisträgerin das Boulevardfach besonders liegt, die wunderbaren Schauspieler, eine Frau und sechs Männer, alle parodistisch kostümiert und mit Highheels, ja selbst die Musiker, die hinter den Schaufenstern der Straße posieren wie sonst eben Valentinokleider, Chanel-Kostüme oder Jimmy-Coo-Schuhe.

Elfriede Jelinek wäre Schneiderin geworden, käme sie nicht aus einer Akademikerfamilie. Kleider und der Anschein von Identität, die sie ihren Trägern verleihen, spielen im Werk der Künstlerin immer wieder eine Rolle, ob in ihren Prinzessinnendramen oder erst kürzlich in ihrer Eurydike-Nachdichtung Schatten (Eurydike sagt).

Im jetzigen Stück taucht die Schriftstellerin in unterschiedlichen Rollen auf. Als alte Frau zum Beispiel, von Hans Kremer gespielt und lediglich mit einer figurbetonenden Unterhose bekleidet und zur Ablenkung neben den obligaten Stöckelschuhen mit einem Louis-Vuitton-Täschchen in der Hand.

Dann wieder als jungmädchenhafte Shopperin, die unter "größter Schwellenangst" leidet und sich deshalb nicht in die Läden hin eintraut. Hinreißend schrullig stöckelt Sandra Hüller dahin, ihren Rock hat sie wohl umsonst gekauft, "weil er keinen anderen Menschen aus mir machen kann".

Fett für die Schickeria

Die gekaufte Identität und der Wettbewerb des schönen Scheins sind denn auch die Hauptthemen des Stücks, denn "fürs Sein hab ich keine Zeit". Und natürlich kriegt auch Münchens Schickeria ihr Fett ab, die sich bloß "erkennt in dem, was sie sich in dieser Straße gekauft hat".

Kurz klingt auch die Vergangenheit der Stadt an, die Nazizeit, doch pfeift sich die Autorin selbst zurück, "du zwängst dich selbst in die Vergangenheit hinein". Und schließlich bekennt sie noch, dass sie einmal im Chanel-Kostüm auf der Versammlung der KPÖ erschienen ist: "Das berühmte Kostüm, von dem wahrscheinlich mehr Menschen gehört haben als vom Kommunismus."

Die junge Frau hat die Stadt gegen sich aufgebracht, nun zürnen ihr die Götter, die am Ende der Straße in ihrem Walhalla über dem Geschehen thronen. Sie schicken Beamte und Fahnder, "die dich ins Nichts beamten", obwohl die Stadtoberen eigentlich "sehr sympathisch" sind. Der im Titel des Stücks angekündigte Überfall ist eine Anspielung auf die unangemeldeten Steuerprüfer, die bei Jelinek erschienen sind und de nen sie hier en passant ein Ironie-Denkmal setzt.

Der beklagte Tod

Nach der Pause gewinnt das Stück noch einmal an Fahrt. Aus der Vitrine löst sich mit perfekter Gesichtsmaske und der so charakteristischen wie unverwechselbaren Haartracht Rudolf Moshammer, als wäre der Ermordete für Jelinek kurzerhand von den Toten auferstanden.

Der Münchner Modeschöpfer, der nicht nur die Maximilianstraße, sondern die ganze Stadt und ihre Adabei-Gazetten über Jahrzehnte mit seiner Exzentrik fesselte, beklagt bei Jelinek, fantastisch weinerlich und selbstverliebt gespielt von Benny Claessens, seinen Tod. Eine hässliche Diva, die die Straße schließlich mit sich zu reißen versucht. "Ohne mich gibt es die Straße nicht."

Und dann tritt man erheitert ins Freie und bemerkt, dass die Straße doch noch da ist, dass sie glänzt und unterm Neuschnee glitzert - zum 100. Geburtstag der Kammerspiele. (Monika Czernin aus München, DER STANDARD, 29.10.2012)