Die "Estelle"...

Foto: Laura Arau

...und ihre Besatzung.

Foto: Laura Arau

Als israelische Soldatin war sie vor drei Jahren im Gazastreifen im Einsatz. Nun wollte sie noch einmal zurückkehren, diesmal mit besseren Absichten.

derStandard.at: Warum haben Sie sich dafür entschieden, bei der Estelle mitzumachen?

Mor: Ich war als israelische Soldatin vor drei Jahren im Gazastreifen. Das zu verarbeiten hat lange gedauert. Als Aktivistin habe ich seitdem nach eine Art Erlösung gesucht. Auch wenn ich oft genug im Westjordanland und in Israel als Aktivistin aktiv war, hatte ich bisher nie die Chance, nach Gaza zurückzukehren. Sogar die in diesem Fall minimale Chance auf eine Rückkehr wollte ich nicht missen.

derStandard.at: Das Boot hat von Schweden aus auf Gaza Kurs genommen. Wie kann man sich die Stimmung an Deck vorstellen?

Mor: Die Atmosphäre hatte etwas Magisches. Als wir von Neapel aufgebrochen sind, sprühte es von Emotionen. Viele Leute sind am Hafen gestanden und haben uns verabschiedet. So war das bei allen Stationen der Reise. Doch an Bord habe ich plötzlich um mich geschaut und realisiert, dass wir nur drei Frauen waren. Ich habe die Typen angeschaut, die irgendwie wie Wikinger ausgesehen haben. Ich war etwas unsicher. Aber es wurde schnell klar, dass die Gruppe an Leuten ganz besonders ist. Jeder hatte seine ganz persönliche Geschichte, die hinter der Motivation mitzumachen steckte. Wir hatten eine großartige Zeit am Schiff. So gut, dass ich mich fast schuldig gefühlt habe. An Deck waren auch Seeleute, die keine Aktivisten waren. Doch am Ende haben sie sich alle dafür entschieden, von der israelischen Armee als Aktivisten behandelt zu werden, und nicht als Crew-Mitglieder.

derStandard.at: Die israelische Armee hat das Schiff auf See abgefangen und euch festgenommen. Was ist seitdem passiert?

Mor: Es ist noch nicht klar, ob es zu einer Verurteilung von uns Israelis kommt. Generalstabschef Benny Gantz erklärte persönlich, dass man einen Weg finden werde. Doch es gibt rechtliche Probleme dabei, weil wir auf internationalen Gewässern aufgegriffen wurden und nicht in Israel. Aber die Anklage liegt am Tisch. Die Grundlage dafür ist ein neues Gesetz, das für illegale afrikanische Einwanderer geschaffen wurde. Sie werden uns wahrscheinlich dafür verurteilen, illegal in Teile Israels eingewandert zu sein, die nicht Teil Israels sind, Gaza eben. Das klingt absurd, dass sie ein Gesetz anwenden, das für Flüchtlinge geschaffen wurde.

derStandard.at: Viele in Israel fassen solche Schiffe als bloße Provokation auf. Was war das Ziel hinter der Aktion?

Mor: Es geht einfach darum, Bewusstsein für die Lage in Gaza zu schaffen. An jedem Hafen, an dem das Schiff angelegt hat, wurde Aufklärung betrieben. Klar ist, dass die Hilfsgüter am Schiff die Lage in Gaza nicht wirklich verbessern würden. Die Aktion ist durchaus auch als Provokation gedacht, somit haben viele Israelis nicht Unrecht. Die Armee meinte auch, dass gar keine humanitären Güter am Schiff gewesen seien. Doch genau das ist der Punkt: was Israel als humanitäre Hilfe nach Gaza lässt, vor allem Nahrung und Medikamente, ist vielleicht genug für Tiere. Aber Menschen brauchen mehr als das. Wir hatten Bücher, Spielzeug, Sachen für ein Kino und Zement am Schiff. Dinge, die man braucht, um ein Leben in Würde zu führen.

derStandard.at: Ist die Hauptmotivation für Sie nun humanitär oder politisch?

Mor: Für mich ist es klar politisch. Wir hatten humanitäre Hilfe an Bord, aber das ist ein Symbol. Doch in den Palästinensergebieten ist ja letztlich alles politisch. Wir dürfen nicht damit anfangen, nach den israelischen Regeln zu spielen. Zement ist nötig, um Häuser zu bauen. Dass Israel Zement nicht als humanitäre Hilfe in den Gazastreifen lässt, ist einfach ein Scherz. Es ist ein Grundrecht, sein eigenes Haus bauen zu dürfen. Das Politische und das Humanitäre kann also nicht getrennt werden. Nimm zum Beispiel das Thema Wasser im Westjordanland. Das ist ein humanitäres Bedürfnis, aber die Art und Weise wie Israel dort das Wasser kontrolliert, ist rein politisch.

derStandard.at: Wie hat Ihr soziales Umfeld in Israel Ihre Entscheidung, bei der Estelle mitzumachen, aufgenommen?

Mor: Kommt darauf an, ob es um meine Familie, oder meine Freunde geht. Die Gemeinschaft linker Aktivisten ist in Israel sehr klein geworden. Jeder passt auf den anderen auf und ich habe eine Menge Unterstützung von meinen Freunden bekommen. Viele haben am Tag der geplanten Ankunft in Gaza stundelang am nahegelegenen Hafen Ashdod gewartet. Sie haben 14 Stunden lang da gestanden und uns Mut gemacht. Meine Eltern haben natürlich anders reagiert. Sie waren dagegen. Doch nicht wirklich aus politischen Gründen, sondern weil sie meinten, dass ich damit mein zukünftiges Leben in Israel zerstöre, dass ich keine Arbeit mehr finden werde, dass mich die Leute am Schiff schlecht behandeln werden. (Andreas Hackl, derStandard.at, 27.10.2012)