Am 26. September erschien eine Studie, die von 20 Regierungen bei der Organisation Dara (deutsche Registrierungsagentur für Sozial- und Wirtschaftsdaten) in Auftrag gegeben worden war. Wenn die globalen Durchschnittstemperaturen so steigen wie zuletzt, werden bis zum Jahre 2030 mehr als hundert Millionen Menschen an den direkten Folgen - Dürre, Trinkwassermangel, Ernteausfall, Armut und Krankheit - sterben. 100 Millionen sind keine Bagatelle, nicht die Folge eines Verkehrsunfalls auf der Inntalautobahn. 100 Millionen sind mehr als die Opfer beider Weltkriege. Falls Sie diese Nachricht nicht wahrgenommen haben, grämen Sie sich nicht. Sie wurde ihnen vorenthalten.
Der Grund liegt weniger in der Abgeklärtheit, mit der wir der Apokalypse ins Auge blicken, da uns seit Jahren Hollywood und andere popkulturelle Industrien an ihre Allgegenwart gewöhnt haben, sondern wohl eher in einem Nebensatz des Berichts, der leicht zu übersehen wäre: "Mehr als 90 Prozent dieser Toten werden Bewohner von Entwicklungsländern sein." Nun ja, es wird die anderen treffen, und von denen gibt es - wenn wir ehrlich sind - eh schon viel zu viele.
Eine Woche früher hatte der Präsidentschaftskandidat Mitt Romney bei einem Wahlkampfdinner hinter verschlossenen Türen ohne euphemistischen Maulkorb gesprochen. Statt sich des üblichen Wahlkampfjargons zu befleißigen ("This is a campaign about helping people who need help"), redete er in Florida vor vermögenden Unterstützern einmal Tacheles: 47 Prozent der Bevölkerung seien Parasiten, die vom Staat abhingen, keine Steuern zahlten, Ansprüche stellten und sich zudem noch als Opfer des Systems begriffen. Seine Stimme triefte vor Verachtung, wie man der im Internet veröffentlichten Aufnahme entnehmen kann.
Kaum wurde dieser ehrliche Ausrutscher ruchbar, erklärte Romney in einer eilends einberufenen Pressekonferenz mit zuckriger Stimme, er wolle für all diese Menschen Jobs schaffen, ihnen ein würdigeres Leben ermöglichten. Das ist allerdings lediglich Augenwischerei. Als international erfolgreicher Geschäftemacher weiß Romney, dass es angesichts fortschreitender Globalisierung und Automatisierung unmöglich sein wird, für den allergrößten Teil dieser Menschen Arbeit zu schaffen. Weswegen es an der Zeit ist, die bittere Wahrheit auszusprechen: Diese Menschen sind überflüssig.
Süffisante Frage
Einige Tage später sprach ich in London mit einer Investmentbankerin, die mich süffisant fragte, wie ich denn meine sozialen und ökologischen Überzeugungen mit der Tatsache in Einklang bringe, dass es zu viele Menschen auf der Erde gebe. Mehrere Anwesende nickten zustimmend. Menschlichkeit und Überbevölkerung, wie soll das zusammengehen? Diese Frage hat der Brite Thomas Malthus vor gut 200 Jahren gestellt: "Ein Mensch, der in einer schon besetzten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedeck für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen."
Lange Zeit in Vergessenheit geraten, erlebt Malthus gegenwärtig eine Renaissance.
In Kreisen der sogenannten Elite wird ein posthumanitärer Mischmasch aus neomalthusianischen und neoliberalen Positionen zusammengerührt. Schon 1996 erklärte CNN-Gründer Ted Turner der Zeitschrift Audubon: "Eine Bevölkerung weltweit von 250 bis 300 Millionen Menschen, ein Rückgang um 95 Prozent, wäre ideal." Im Alter gnädiger geworden, bekannte er sich 2008 beim Philadelphia World Affairs Council zu dem Ziel, die Weltbevölkerung auf zwei Milliarden zu verringern. Auch Bill Gates propagiert eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl. In einer Rede aus dem Jahre 2010 (hier auf Youtube) schätzt er, dass durch "neue Impfstoffe und bessere Gesundheitsversorgung, vor allem im Bereich der Fortpflanzung" die bald neun Milliarden zählende Weltbevölkerung um zehn bis 15 Prozent verringert werden könnte.
Schuld sind die anderen
Das ist eine erstaunliche Aussage, da bekanntlich nicht Polioimpfungen und geringere Kindersterblichkeit, sondern eine bessere Ausbildung der Frauen (siehe das Beispiel des indischen Bundesstaates Kerala) sowie weit verbreiteter Wohlstand (siehe das Beispiel Deutschland) das Bevölkerungswachstum gegen null reduzieren. Keine humanitäre Maßnahme kann es derart massiv rückgängig machen!
Neomalthusianer haben nicht nur in den USA Hochkonjunktur. Die russische Zeitschrift Ekologitscheski Postmodern ("Ökologische Postmoderne") publizierte vor einigen Jahren einen Artikel, der u. a. eine Tabelle für das Jahr 2007 über "Länder der Welt mit überflüssiger Bevölkerung" enthielt. Es wurden insgesamt 107 Staaten aufgeführt, in denen über 80 Prozent der Weltbevölkerung beheimatet sind, 5.470.982.000 Seelen, bei einer "biologisch zulässigen Bevölkerung" von 1.922. 121.200. Die " Überbevölkerung" betrug demnach 3.548.868.800. Besonders großen Überschuss verzeichnen China (860 Mio.) und Indien (938 Mio.). Dort werden Sparpakete der besonderen Art erforderlich werden. Auffällig, dass in der Tabelle weder Russland noch die USA aufscheinen. Wahrscheinlich ist es inopportun, die Überflüssigen unter den Eigenen zu suchen. So wie auch jene, die eine freiwillige Beschränkung auf ein Kind fordern, selbst eifrig für Nachwuchs sorgen: Ted Turner hat fünf, Bill Gates drei Kinder.
Überflüssig ist derjenige, dessen Arbeitskraft nicht in den kapitalistischen Kreisläufen profitabel genutzt werden kann. Ein Subsistenz- oder Kleinbauer ist somit extrem überflüssig, auch wenn er um ein Vielfaches nachhaltiger lebt als ein Großstädter. Ginge es tatsächlich um ökologische Prioritäten, würde man die Überflüssigen zuallererst bei Superreichen wie Romney ausfindig machen, deren persönlicher Verbrauch dem ganzer afrikanischer Städte entspricht. Mit anderen Worten: Je materiell erfolgreicher jemand im existierenden System ist, desto ökologisch destruktiver lebt er.
Aber der weiße Mann hat sich seit je als so viel wertvoll wie tausend braune, gelbe oder schwarze Männer begriffen. In der Masse machen stets nur die anderen unseren Planeten kaputt.
Den Überflüssigen wird gewiss kein Gedeck beim großen Gastmahle gelegt. Hunger ist der Hauptgrund für unnatürliches Sterben auf der Erde: Jährlich verhungern 18 Millionen laut den Statistiken der FAO (der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen). Die Hälfte der Kinder in Indien sind schwer unterernährt, 200.000 Kleinbauern verüben jedes Jahr Selbstmord. Die Finanzkrise 2007/08 hat laut Angaben der Weltbank weitere 69 Millionen Menschen in den Hunger gestürzt. Präziser als die salbungsvolle Rhetorik von Thomas Malthus ist die nüchterne Feststellung von Mahatma Gandhi: "The world has enough for everyone's need, but not for everyone's greed."
Wer frisst wen?
Und weil es so ist, gibt es in Zeiten sich zuspitzender Verteilungskrisen nur eine Lösung: "Kill The Poor", in den Worten der Band Dead Kennedys. "The sun beams down on a brand new day / No more welfare tax to pay / Unsightly slums gone up in flashing light / Jobless millions whisked away / At last we have more room to play / All systems go to kill the poor tonight." Wahrscheinlich hat einer der Kellner die Romney-Rede in Florida mitgeschnitten und ans Licht der Öffentlichkeit gebracht.
Das deutet auf eine weitere Hybris dieser patriarchalisch-individualistischen Haltung hin: Das Prekariat, aus dessen Reihen sich die billigen Arbeitskräfte rekrutieren, die den Erfolgreichen und Wohlhabenden die Schuhe putzen und die Getränke servieren, könnte es eines Tages leid sein, nur die Brosamen aufzuklauben, die von den reich gedeckten Tischen hinabfallen.
Eat the Rich hieß ein wunderbar bissiger englischer Film aus den Achtzigerjahren, eine satirische Antwort auf die sozial verheerende Politik Margaret Thatchers. Wer wen am Ende frisst, wird sich noch erweisen. (Ilija Trojanow, Album, DER STANDARD, 27./28.10.2012)