Schule kann und soll die Moralentwicklung von Kindern fördern, sagt die Hamburger Philosophin Barbara Brüning.

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STANDARD: "Kinder sind die besten Philosophen" heißt eines Ihrer Bücher. Warum sind Kinder denn die besten Philosophen?

Brüning: Weil Kinder noch eine natürliche Wissbegierde haben. Sie stellen Fragen an die Welt, zum Beispiel Fragen nach der Herkunft des Universums. Wie ist das Ganze entstanden? Hat der Himmel ein Ende? Warum gibt es böse Menschen? Kinder haben noch nicht die Scheu, solche tiefgründigen Fragen zu stellen wie Erwachsene, die dann Angst haben, bestimmte Konventionen zu verletzen oder sich lächerlich zu machen. Kinder stellen diese Fragen an die Welt aus einer Neugierde heraus, auch, um mit Erwachsenen ins Gespräch zu kommen, aber ich habe in meiner praktischen Arbeit festgestellt, dass Kinder auch von sich aus nach Antworten suchen, und man muss sie dann eben auch suchen lassen.

STANDARD: Sollte die Schule das leisten, bzw. braucht sie dafür die Philosophie?

Brüning: Viele Eltern könnten es leisten, wenn sie abends Geschichten vorlesen, aber ich weiß auch, dass viele Eltern nicht die Zeit und vielleicht auch nicht die Lust haben. Deswegen bin ich der Meinung, der Kindergarten und die Schule sollten das leisten.

STANDARD: Ist das ein Plädoyer für einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle Kinder?

Brüning: Wir in Deutschland haben durch das Grundgesetz bedingt bis auf die Ausnahmen Berlin und Brandenburg die Wahlpflicht- (Ethik oder Religion) bzw. die Ersatzfach-Alternative für die, die nicht in Religion gehen. Acht der 16 Bundesländer bieten Ethikunterricht in der Schule als Alternative zu Religion an. Da gibt es die Möglichkeit, über die wichtigen Sinnfragen von Kindern intensiv nachzudenken. Das wird in diesem Unterricht auch gefördert, und die Lehrer sind entsprechend ausgebildet. Aber ich persönlich halte Ethikunterricht für alle Kinder – so wie in Berlin, wo er von der siebenten bis zur zehnten Klasse stattfindet – für sinnvoll vor dem Hintergrund, dass wir immer mehr Menschen haben, die unterschiedlichen Religionen angehören. Ich möchte, dass Kinder unterschiedlicher Konfessionen einen Dialog über Religion und wichtige Sinnfragen führen. Darüber hinaus sollen sie in irgendeiner Weise die Gelegenheit erhalten, in ihrer Religionspraxis ausgebildet zu werden.

STANDARD: Sie haben im Rahmen der vom Fachdidaktikzentrum Psychologie – Philosophie der Universität Wien in Kooperation mit dem Standard organisierten Vortragsreihe "Ethik vermitteln?" über das Thema "Muss ich meine Bonbons teilen? Der Beitrag der philosophischen Ethik zur Moralentwicklung von Kindern" referiert. (Audiodatei zum Nachhören auf http://fdz-pp.univie.ac.at) Macht Kinderphilosophie aus Kindern bessere Menschen?

Brüning: Ich würde nicht Ethik und Philosophie machen, wenn ich nicht die Hoffnung hätte, dass man durch das Philosophieren mit Kindern ihre ethische Urteilsfähigkeit fördern und dazu beitragen kann, dass sie in ethischen Konfliktsituationen möglichst moralisch gut handeln. Natürlich bringen auch Eltern ihren Kindern Normen bei, und auch Kinder untereinander erklären sich ja, warum sie etwas gemacht haben. Ich finde aber, dass die Schule, auch schon der Kindergarten, dazu beitragen können, die Moralentwicklung von Kindern zu fördern. Damit meine ich ihre Fähigkeit, Gut und Böse unterscheiden zu können, das eigene und das fremde Verhalten an diesem Maßstab zu messen und ihrem Verhalten Normen und Werte zugrunde zu legen, die sie bewusst wählen, weil sie eine Idee haben, warum etwas gerecht wäre oder nicht. Diese Dinge kann die Schule fördern, indem sie solche Situationen simuliert, in denen Kinder ethische Entscheidungen treffen und begründen müssen.

STANDARD: Was kann Philosophieren als pädagogische Praxis leisten – über die Unterscheidungsfähigkeit, was Gut und Böse ist, hinaus?

Brüning: Wenn Kinder philosophieren und Fragen an die Welt stellen, lernen sie, dass man mit anderen Kindern gemeinsam nach Antworten suchen kann und dass es diese eine allgemein immer gültige Antwort – das ist gut, das ist böse – nicht gibt, sondern dass man immer schauen muss, welche Situation ist es, wie ist es passiert? In der Schule hat man eine Art Dialoggemeinschaft in der Klasse. Da können alle Kinder ihre Ideen einbringen. Kinder lernen also, dass nicht nur ihre Ideen wichtig sind. Das schärft die soziale Kompetenz. Und wenn bei Pisa und anderen Studien immer beklagt wird, dass die Verstehenskompetenz von Texten nicht ausgeprägt ist, dann kann Philosophieren auch sprachliche Kompetenzen fördern und fordern. Das kommt in der Schule offenbar zu kurz, wie uns diese Studien zeigen.

STANDARD: Ab welchem Alter können oder sollen Kinder philosophieren?

Brünung: Kinder stellen ja so im Alter ab drei solche Fragen: Warum gibt' s den Himmel? Warum sind die Sterne da? Warum soll ich teilen? Wenn man im Kindergarten oder in der Vorschule, wo Kinder diese Fragen stellen oder auch Bücher vorgelesen werden, in denen es ethische oder philosophische Probleme gibt, wäre es nach meinem Dafürhalten wünschenswert, einfach mal zehn Minuten zu fragen, warum ist das jetzt gut oder böse? Wenn man diese Fragen mit Kindern bespricht, hat man viel erreicht. Es ist besser, als später irgendwelche Normen zu formulieren, die man nicht begründet, indem es zum Beispiel heißt: Gib die Bonbons ab, weil ein gutes Kind macht das so. Aber warum soll man Bonbons abgeben, wenn man vielleicht nicht für alle genug hat? Angenommen, es sind vier Kinder und drei Bonbons, wie teile ich die denn jetzt gerecht? Oder teile ich sie vielleicht gar nicht, weil ich sie nicht gerecht teilen kann?

STANDARD: Gibt es auch Einwände gegen Philosophie mit Kindern? Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat Kindern erst ab dem Alter von zwölf Jahren die Fähigkeit zum logischen Denken zugesprochen.

Brüning: Der 2011 verstorbene amerikanische Philosoph Gareth B. Matthews hat sich in seinem Buch Denkproben. Philosophische Ideen jüngerer Kinder mit Piaget auseinandergesetzt und viele Beispiele gezeigt, dass Kinder sehr wohl interessante philosophische Fragen stellen. Ich sehe das eher pragmatisch. Kinder stellen, das ist nun Fakt, philosophische Fragen. Darüber kann man in einer sehr konkreten und anschaulichen Form mit ihnen nachdenken. Das sind erste Schritte im Philosophieren. Dass Kinder keine Theorien über die Welt aufstellen, weiß ich auch. Aber sie suchen eben nach Antworten auf Fragen, genauso wie das Philosophinnen und Philosophen tun. Ich sehe die Aufgabe von Eltern und Lehrern darin, dass sie Kinder bei dieser Antwortsuche unterstützen. Sicherlich hat man gesagt, Kinder bis zwölf können nicht reversibel denken, also von sich auf andere schließen oder zurückschließen, aber es kann auch, wenn man es fördert, früher einsetzen. Insofern würde ich die Entwicklungspsychologie eher so verstehen, dass man versucht, mit Kindern möglichst konkret zu arbeiten.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 27./28.10.2012)