Das Blatt, der Baum, die Kunst. Kaum etwas ist auf dieser Welt so sehr verbunden wie diese Triade. Deshalb hat sich die Uno seinerzeit auch etwas gedacht, als sie ein Gedicht von Christian Morgenstern den Voyager Golden Records eingebrannt hatte. Neben Kurt Waldheims warmen Grüßen, Tiergeräuschen und Musik von Chuck Berry ist auch dieses Gedicht seit 1977 im Weltall unterwegs, um Außerirdische über uns zu informieren.
Morgenstern lässt sein Gedicht Das Gebet folgendermaßen enden: "Die Rehlein beten zur Nacht, hab acht! Sie falten die kleinen Zehlein, die Rehlein." Was er uns damit sagen wollte, ist ganz klar: Auch in der Tierwelt ist das Phänomen der Nyktinastie weit verbreitet. Und das sollen bitte auch die Außerirdischen anerkennen, es geht schließlich um viel.
Nyktinastie, mein Gott, Nyktinastie ... was wurde darüber schon an den Stammtischen gestritten, Wahlen wurden damit gewonnen und gar garstige Kriege geführt. Morgenstern hatte mit seinem Gedicht die Debatte darüber beendet, und seither herrscht Einigkeit zum Themenkomplex Lageveränderung im Tag-Nacht-Rhythmus.
Nyktinastie
Es scheint nun allen klar, dass es Pflanzen gibt, die sich bei der Nacht quasi einrollen, es sich gemütlich machen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Sie betreiben Nyktinastie. Die Fiederblätter des Gewöhnlichen Steinklees (Melilotus officinalis) zum Beispiel legen sich nächtens zusammen. In gemütlicher Löffelchenposition ist so eine Nacht auch viel besser zu ertragen.
Der Gewöhnliche Steinklee, der auch auf Gelber Steinklee, Echter Steinklee, Gebräuchlicher Steinklee und Honigklee hört, ist aber in vielerlei Hinsicht interessant. Als krautige Pflanze ist er mitunter mehrjährig, kommt in unseren Breiten aber eher als Zweijähriger daher. Und er sucht sich sein Platzerl überall aus. Bahndämme, Schutthalden, gerodete Ruderalflächen - der Gewöhnliche Steinklee ist zur Stelle, wenn es um die unkomplizierte Erstbesiedelung neuen Landes geht.
Es ist absolut unerklärlich, warum diese Pflanze nicht um ein Heidengeld in Töpfen von Gärtnereien gehandelt wird. Ja, gibt es denn Schöneres?
Der Gewöhnliche Steinklee gehört zu den sogenannten schmetterlingsblütenartigen Schmetterlingsblütlern, so wie Fisolen. Sein Zauber geht aber vom Verhältnis Blattmenge-Blütenmenge aus, das zugunsten der Blütenmenge tendiert.
Dezente Süße und vanilliger Waldmeisterton
Die gesamte Pflanze, immerhin über einen Meter hoch und schön buschig, ist entzückend fragil. Die Triebe sind zart und dünn, das dezente Laubwerk zittrig im Wind, und das Gelb der Blüten leuchtet über Monate hinweg den Bienen und Hummeln den Weg zum Nektar. Gibt es bitte eine andere Pflanze, die so lange so gesund und ohne jeden Aufwand derart entzückend vor sich hin blüht? Die das Licht durchscheinen lässt, die sich dem Wind beugt, ohne zu brechen, die unabhängig von der Witterung stets ihr schönstes Antlitz zeigt? Gewöhnlichen Steinklee sollte man haben, wenn man von erfülltem Gärtnerleben spricht, vorher sollte man das unterlassen.
Der Gewöhnliche Steinklee kann aber noch mehr: Er schmeckt gut. Sein dezente Süße und sein vanilliger Waldmeisterton pimpen laue Marmeladen, adeln fades Kompott und geben Likören und Limonaden den entscheidenden Kick. Und da der Gewöhnliche Steinklee auch reich an Cumarinen und Flavonoiden ist, wird er in der Naturheilkunde und Volksmedizin gegen alles Mögliche eingesetzt.
Optik, Geschmack und Heilkraft sind nun Grund genug, dem Gewöhnlichen Steinklee seine nächtliche Ruhe zu gönnen; er faltet dann den Rehlein gleich seine Zehlein und erholt sich für uns. Der nächste Tag kommt bestimmt. (Gregor Fauma, Rondo, DER STANDARD, 25.10.2012)