Schweinderl muss man haben, dann ist das Glück ein Vogerl.

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Ich begegnete Österreich, das heißt eigentlich Wien, das erste Mal, als ich mit sechs Jahren in einem kleinen grauen Nest namens Gießen, das mir damals sehr bunt erschien, Der Trotzkopf las und die Lektüre wegen der seltsamen -erls unterbrechen musste, weil ich plötzlich nicht mehr sicher war, ob ich diese Sätze verstehen sollte und konnte. Da mich der Ausgang der Liebesgeschichte zwischen Ilse und dem Junior-Assessor, dessen Name mir inzwischen entfallen ist, interessierte, biss ich mich durch diese wienernden Stellen, und beim zwanzigsten -erl dämmerte mir die Gesetzmäßigkeit dieser eigentümlichen Endung, sodass ich zurückblättern und die Passagen, bei denen ich nur geraten hatte, entziffern konnte.

Ein Jahr später zog meine Familie nach Wien, aber dass die -erls im Buch und jene im Klassenzimmer dieselben waren, merkte ich erst, als mir Hans Moser aus dem Fernseher entgegennuschelte und ich einer neuen Dimension des Nichtverstehens ausgesetzt war. Immerhin hatte ich inzwischen verstanden, dass "Mäderl" und "Haserl" nett gemeint waren, obwohl ich nicht so ganz verstand, warum ich ein Hase sein sollte, und obwohl " Mäderl" manchmal auch mit einem gewissen Unterton ausgesprochen wurde, der mich auf Genervtsein schließen ließ, andererseits schien dieser Tonfall zu der Stadt zu gehören, selbst die Menschen, die mit Akzent sprachen, benutzten ihn. Ich versuchte es auch, im Jahr 1985 sagte ich das erste Mal "Na geh!", und als ich das sagte, sahen mich meine Freunde nur an - diesen Blick kann ich bis heute nicht deuten.

Als ich endlich verstanden hatte, wie und wann man ein -erl einsetzt, und dass man im Grunde aus jedem Wort ein -erl-Wort machen kann, sah ich nur noch -erls: Sackerl hier, Weckerl da, Mauserl dort, Kinderl fort; ich reimte munter weiter: Milcherl, Baumerl, Beinerl. Heute weiß ich, so etwas würde ein Wiener nie sagen, Fußerl ja, Baucherl ja, aber Beinerl?! Warum eigentlich nicht?

In meinem Lieblingsladen auf der Speisinger Hauptstraße, einem Zuckerlgeschäft, das mit "Bonbons" übertitelt war, gab es Cola-Flascherln mit und ohne kribbligen Brausezucker und Gummi-Apferln in Rot und Grün, Herzerln zum Brechen und Biegen, Stieferln in Groß und Klein sowie Pferderln zum Rein- und Abbeißen. (Der Verkäufer hinter der Theke sah nicht so aus, als wollte er seine Waren inwendig kennen: Er war so schmal, dass man leichter an ihm vorbei- als ihn ansah, dafür brachte er mir das Wort "Zuckerl" bei, von dem ich bis zu unserer schicksalhaften Begegnung angenommen hatte, es handle sich um eine Verkleinerungsform von "Zucker".)

Bei meinen Erkundungen dieser ominösen Verkleinerungsform fand ich schließlich heraus, dass sie mit Vorliebe auf Lebensmittel und Körperteile angewandt wurde, aber auch Tiere mussten sich mit ihr abfinden (Hunderl, Katzerl), und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie immer dann besonders gehäuft auftrat, wenn die Sprecherin oder der Sprecher etwas Hinterhältiges dachte, aber diese Hinterhältigkeit nicht in ihrer vollen Gemeinheit aussprechen wollte.

Diese Flexibilität ist es, die das -erl zu einer genialen Endung macht: In seiner Zwei- und Mehrdeutigkeit ist es nahezu grenzenlos einsetzbar, nahezu, denn eines kann es nicht - es ist niemals nur eindeutig positiv. Das -erl ist nicht dazu da, um Enthusiasmus auszudrücken, Wohlwollen, ja, Zuneigung, natürlich, sogar Zärtlichkeit - aber in Maßen. Es ist nicht der Freund des Rufzeichens oder gar Doppelrufzeichens, sondern ein Ausgleicher, ein Relativierer, somit ist das Gute niemals nur und ausschließlich gut, dafür aber das Schlechte auch nur relativ schlecht. (Allerdings ist das Schlechte schlechter als das Gute jemals gut sein kann, insofern ist das -erl eher pessimistisch.) Man könnte sagen, es drückt sich in ihm Lebenserfahrung aus, das Wissen, das nichts aus einer, alles aus mindestens zwei Seiten besteht; des mach ma scho, halb so wild, halb so tragisch ist das dazugehörige verbale Beiwerk, das Verbeiwerk.

Man könnte diese Geisteshaltung als eine Art Stoizismus bezeichnen, dabei müsste man allerdings einen Tonfall benutzen, der unbedingt zum -erl gehört, ohne diesen ist sie nicht vollständig. Oft ist das -erl gar nicht physisch anwesend, sondern nur sein Tonfall, diese Mischung aus Melancholie, Resignation und Ironie, der eher zu den schwarzen Fassaden der Innenstadt der Achtzigerjahre gehört als zu den weißen, aufwändig renovierten der Gegenwart, und der, so meine Meinung, sehr österreichisch ist: In erster Linie drückt sich in ihm Vorsicht aus, ich sagte ja schon, extreme Gefühle meidet er, er begnügt sich mit unterdrückten, nur ja kein Enthusiasmus!, dafür sanfte Freude und sanftes Unglück. Nun ja, das stimmt nicht ganz, sanft ist das Unglück dann doch wieder nicht, das Unglück ist ziemlich unsanft und wird bisweilen heftig besprochen, in jedem Fall steckt in jedem -erl auch zumindest ein kleines Unglück.

Gleichmut ist das Ziel, Gleichmut oder doch eher Nivellierung? Hinter der Gemütlichkeit, die in Österreich herrscht, steckt der eigentliche Wunsch des -erl, anzugleichen, zu nivellieren: Nichts darf zu gut sein. Keine großen oder größten Taten, schon gar keine Großtaten, dafür auch keine Schlechttaten. Mittelmaß ist das Klima, das das -erl schätzt, oder seien wir -erlscher: Demokratie. Alle sind gleich, alles ist gleich, dann und nur dann ist nichts schlimm.

So lässt es sich gut leben, ohne Stress, ohne Hektik, mit Knöderln, die besser als Klöße schmecken. Und im Bewusstsein, dass heilige Uniformität herrscht, matschgert man vor sich hin - aber Matschgern ist halb so schlimm wie Ärgern. (Anna Kim, DER STANDARD, 25./26.10.2012)