Dietmar Steiner: Autos machen die Straße zur Kampfzone.

Foto: Pez Hejduk / AzW

"A developed country is not a place where the poor have cars. It's where the rich use public transport." (Gustavo Petro, Bürgermeister von Bogotá)

Es ist im Straßenbild deutlich erkennbar: Die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung hat weitere Wiener Bezirke von der automobilen Belagerung befreit und bringt den nun von parkenden Pendlern überschwemmten restlichen Teil Wiens in Bedrängnis. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Vernunft, bis das Problem für ganz Wien gelöst sein wird. Das Problem der Pendler kann niemals am Zielort, sondern immer nur am Ausgangspunkt der Verursachung gelöst werden. Diese physikalische Tatsache hat vor allem Niederösterreich endlich zur Kenntnis zu nehmen.

Fassungslos und wütend machte mich deshalb der Kampf gegen die Ausweitung des Parkpickerls in Wien zuvor. Auf welchem dumpfen Niveau hier Autofahrer-Lobbys und lokale Provinz-Parteien polemisierten und mobilisierten, die heilige Kuh des privaten Automobils als alleinigen Herrscher der Stadt zum Schaden der Bevölkerung anbeteten, widerspricht jeder rationalen urbanistischen Analyse.

Denn Tatsache ist, dass die europäische Stadt mit einer weiteren Vorherrschaft des privaten Automobils ihre Funktionsfähigkeit heute und in Zukunft nicht mehr aufrechterhalten kann. Deshalb ist die Einschränkung und Reglementierung der individuellen Besetzung des öffentlichen Raums durch private Automobile die einzige Möglichkeit, Lebensraum und Mobilität für alle Bewohner zurückzugewinnen.

Wir müssen in allen europäischen Städten, auch in Wien, den privaten Autoverkehr dramatisch reduzieren zugunsten eines für alle zugänglichen öffentlichen Raums, der durch die europäische Stadtstruktur historisch gegeben und nicht vermehrbar ist. Die urbane Struktur der europäischen Stadt, sagte mir einmal Vicente Guallart, der heutige Stadtarchitekt von Barcelona, wurde nicht für Autos, sondern für Pferde gestaltet. Vicente ist kein verträumter Konservativer, sondern ein experimentell erfahrener Architekt und Stadtplaner, der die katalanische Metropole mit revolutionären Visionen einer neuen Energie- und Mobilitätspolitik zukunftsfähig machen will.

Dieser Einsicht folgten in den letzten Jahren die Stadtplaner aller westeuropäischen Länder. Mit erfolgreicher City-Maut in skandinavischen Metropolen, mit radikalem Rückbau von innerstädtischen Autostraßen in Frankreich, Spanien oder der Schweiz. Die Exhibition Road im Zentrum Londons wurde als Shared Space gestaltet, bei dem sich Fußgänger, Radfahrer und Automobile friedlich denselben Straßenraum teilen. Als London dafür im Wettbewerb "European Urban Public Space" ausgezeichnet wurde, geschah das mit dem Unverständnis der spanischen Jurymitglieder. In ihren Städten ist dies längst schon eine Selbstverständlichkeit, dass in engen historischen Straßen und Gassen Gehsteig und Fahrbahn auf einer Ebene sind.

Aber man muss auch die Autokanäle selbst reduzieren. Die wichtigste Stadtausfahrt von Madrid in Richtung Portugal wurde auf eine Fahrspur zurückgebaut, die Haupterschließung des neuen Stadtteils Öresund in Kopenhagen überhaupt nur mit einer Fahrspur gestaltet, die sich der private Pkw mit dem öffentlichen Bus und den Wartezeiten vor seinen Haltestellen teilen muss.

Nirgendwo führte dies zum Kollaps der Mobilität, wie unsere autofixierten Verkehrsplaner dies immer noch behaupten. Denn der Rückbau der "Autokanäle" hat einen Effekt, der überall in Westeuropa vor Ort zu beobachten ist. Er "entspannt" die Stadt, weil dann eben nicht mehr die emotionale Notwendigkeit besteht, auf einer mehrspurigen Straße von Ampel zu Ampel auf 80 km/h zu beschleunigen, nur weil die Möglichkeit des Überholens räumlich gegeben ist. Er fördert den Respekt der Autofahrer vor anderen Verkehrsteilnehmern:

Es ist evident, und westeuropäische Städte zeigen dies, dass eine Reduktion und Verlangsamung des Autoverkehrs auch die anderen Verkehrsteilnehmer entspannt. Es senkt auch die Aggressivität der Radfahrer, und es muss nicht mehr, einzigartig in Wien (!), in den U-Bahn-Haltestellen gerannt und gerempelt werden, um den gerade einfahrenden Zug zu erreichen, als ob es lebensentscheidend wäre, fünf Minuten früher oder später am Zielort anzukommen.

Warum diese westeuropäische Entwicklung der Verkehrspolitik in deutschen und österreichischen Städten noch nicht vollzogen wird, hat meiner Einschätzung nach vor allem kulturelle Gründe. In Deutschland ist die Automobilindustrie ganz einfach ein Religionsersatz, und Österreich ist eben ein osteuropäisches Land mit einem vergleichbar unterentwickelten Verhältnis zum Automobil. So bekennt und zelebriert das Wiener Verkehrsverhalten seine Verwandtschaft mit den Verhältnissen in Belgrad, Kiew, Baku, Sofia oder Skopje: der Straßenraum als tagtäglicher Kampfplatz, auf dem der Stärkere gewinnt.

Diese osteuropäische Strategie wird in Wien immer noch von den zuständigen Magistratsabteilungen verfolgt. Der soeben aufwändig erfolgte Umbau des Gürtels beim neuen Hauptbahnhof zeigt dies exemplarisch. Eine fatale Fortschreibung des Status quo. Realisiert wurde eine völlige Missachtung eines künftigen urbanen Raums für Fußgänger, keine entsprechende Berücksichtigung von Fahrradstraßen, keine Idee einer entsprechenden Gestalt des öffentlichen Raums, eines möglichen großzügigen baumbestandenen Boulevards.

Eine Umkehr dieser zum Untergang der europäischen Stadt führenden Wiener Ideologie osteuropäischer Verkehrsplanung ist nur möglich, wenn die individuellen Vorteile einer Reduktion der automobilen Mobilität in der Stadt erkannt und kommuniziert werden. Dies spricht nicht gegen den individuellen Besitz von Automobilen, die für Überlandfahrten und allfällige Besorgungen verwendet werden, als zusätzlicher "Wohnraum", der bei Nichtgebrauch stadtschonend geparkt und verwahrt werden muss. Denn nur dann, wenn wir das "Auto" grundlegend umdenken, kann die europäische Stadt gerettet werden:

Das Auto muss als Bestandteil des privaten Wohnens gesehen werden, und seine Rolle im öffentlichen Raum ist allen anderen Mobilitätsformen nur bei radikaler Reduktion seiner Verwendung gleichberechtigt. (Dietmar Steiner, DER STANDARD, 25./26.10.2012)