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Die alljährliche Heeresschau am Heldenplatz habe Volksfestcharakter, meint Oliver Rathkolb. "Ich würde dem nicht zu viel Bedeutung zumessen, sonst hätte das Bundesheer einen ganz anderen Budgetanteil."

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"Die Neutralität abzuschaffen würde politischen Selbstmord bedeuten. Das gilt zumindest noch für die jetzige Generation", sagt Oliver Rathkolb.

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Am Nationalfeiertag feiert Österreich den Beschluss des Neutralitätsgesetzes am 26. Oktober 1955. Die Neutralität ist in Österreich zu einem identitätsstiftenden Faktor geworden. "Die Neutralität abzuschaffen würde politischen Selbstmord bedeuten", sagt der Zeithistoriker Oliver Rathkolb im Gespräch mit derStandard.at. Warum sich Österreich militärstrategisch immer überschätzt hat und Neutralität nicht im Widerspruch zu einem Berufsheer steht, erzählte er Marie-Theres Egyed.

derStandard.at: Der Nationalfeiertag steht bevor, mit ihm eine große Heeresschau am Heldenplatz. Wie ist das Verhältnis der Österreicher zum Bundesheer?

Rathkolb: Das Verhältnis der Österreicher zum Bundesheer ist ambivalent. Das ist auch ein Ergebnis der allgemeinen Wehrpflicht. Auf der einen Seite haben die meisten jungen Männer, die den Präsenzdienst absolviert haben, gemischte Erfahrungen gemacht und kommunizieren das auch. Auf der anderen Seite wird das Bundesheer als Garant für Hilfeleistungen bei Katastrophen angesehen. Die militärischen Kapazitäten des Bundesheeres in Österreich werden aber eher gering eingeschätzt.

derStandard.at: Gleichzeitig gibt es ein breites Bekenntnis zur Neutralität. Das hindert die Menschen aber nicht daran, am Nationalfeiertag auf den Heldenplatz zu strömen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Rathkolb: Die Wiener und das Umland von Wien haben eine starke Tendenz, gerne zu jedem Event am Helden- und auch am Rathausplatz zu kommen, das hat Volksfestcharakter. Ich würde dem nicht zu viel Bedeutung zumessen, sonst hätte das Bundesheer einen ganz anderen Budgetanteil.

derStandard.at: Welche Rolle spielt die Neutralität im Bewusstsein der Österreicher?

Rathkolb: Hier ist die Gesellschaft ebenfalls gespalten. Die eigentliche völkerrechtliche Rolle, die aus der Zeit des Kalten Krieges stammt, ist überhaupt nicht mehr wirksam. Neutralität hat sich über die Jahrzehnte als kaum identifizierbarer Faktor der akzeptierten Kleinstaatlichkeit in einem entsprechend hohen sozialen und organisierten ökonomischen Sicherheitsnetz verselbstständigt.

derStandard.at: Inwiefern hat sich die Neutralität verselbstständigt?

Rathkolb: Das ist ein interessantes Phänomen. Es geht dabei nicht um die klassische völkerrechtliche Neutralität, die in Österreich nie eine sehr große Rolle gespielt hat. Österreich war immer stark im Westen integriert. Neutralität wird aber von vielen älteren Menschen ab 40 mit einer sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegsphase in der Zweiten Republik verbunden und ist deswegen auch sehr positiv aufgeladen - obwohl das eine mit dem anderen nur indirekt zu tun hat.

Neutralität ist ein Identitätsbestandteil geworden, ohne eigentlich wirklich etwas mit dem Kern von militärischer Neutralität zu tun zu haben. Das ist auch einer der Gründe, warum es der schwarz-blauen Koalition nach 2000 nicht gelungen ist, die Neutralität aufzulösen. Die Neutralität abzuschaffen würde politischen Selbstmord bedeuten. Das gilt zumindest noch für die jetzige Generation. Das haben Schüssel und Co damals verstanden.

derStandard.at: Neutralität wird in der aktuellen Wehrpflichtdebatte auch als Synonym für Sicherheit verwendet. Wie bewerten Sie das?

Rathkolb: Selbst im Kalten Krieg, wo es ja lange keinen Zivildienst gegeben hat, hätte das österreichische Bundesheer im Falle eines Ost-West-Konflikts nur für einige Tage eine Verzögerung erzielen können. Es wurde damals primär eine Intervention durch den Warschauer Pakt angenommen. Die militärische Schutzgarantie sollte von der NATO kommen. Sie wurde zwar nie ausgesprochen, aber vermutet. Militärstrategisch muss man sehen, dass sich die Österreicherinnen und Österreicher hier immer etwas vorgemacht haben.

derStandard.at: Die Neutralität ist auch in der Sicherheitsdoktrin festgeschrieben. Was bezweckt das?

Rathkolb: Festschreiben kann man vieles, es kommt immer darauf an, was man mit Sicherheit meint. Wenn es darum geht, so wie im Jugoslawien-Krieg 1991 ein Überschwappen von regionalen Konflikten auf österreichisches Staatsgebiet zu verhindern, macht es Sinn. Aber die österreichische Neutralität ließ sich nie mit dem Schweizer oder mit dem schwedischen Modell vergleichen. Man braucht sich nur die militärischen Budgets der letzten Jahrzehnte in Europa anschauen, dann wird klar, was wirklich im militärstrategischen Bereich und in der Infrastruktur vorhanden war.

derStandard.at: Was bedeutet die Neutralität im europäischen Kontext?

Rathkolb: Im europäischen Kontext hat die Neutralität keine Funktion und Rolle mehr, nicht mehr wie zu den Zeiten des Kalten Krieges. Im Rahmen der EU bilden sich ganz andere Interessenkoalitionen heraus. Die österreichische Regierung ist heute im Gegensatz zur Zeit des Kalten Krieges nicht sehr erfolgreich im Herausbilden von Koalitionen innerhalb der EU, das ist auch allen bewusst.

derStandard.at: Ist Österreich de facto noch neutral?

Rathkolb: Das ist eine große Streitfrage unter Völkerrechtlern und Rechtsexperten. Aus einer rein zeithistorischen Sicht war Österreich nie neutral, auch nicht im Kalten Krieg. Die erste Auslandsreise eines hohen Militärs, General Emil Liebitzky, ging 1955 im Auftrag von Bundeskanzler Julius Raab nach Italien, um ein geheimes Kontaktbüro zur NATO zu entrieren, was von den USA sofort verhindert wurde.

Die Neutralität hat sich eher auf die klassische Grundlinie zurückgezogen - also keinen Beitritt zu einem Militärpakt, keine Auslandseinsätze im Rahmen eines Militärpakts mit Soldaten und Know-how mitzutragen. Hier hat es inzwischen Aufweichungen gegeben, ganz neutral war Österreich aber nie.

derStandard.at: Steht ein Berufsheer nach den Vorstellungen von Minister Norbert Darabos im Widerspruch zur Neutralität?

Rathkolb: Nein, überhaupt nicht. Denn wenn sein "Modell 3" so umgesetzt wird wie geplant, bringt eine schlanke, entbürokratisierte, aber demokratiepolitisch kontrollierte professionelle Armee deutlich mehr an Effizienz als die Fortschreibung der finanziell immer unterdotierten allgemeinen Wehrpflicht aus dem Jahr 1955, die übrigens eine US-Bedingung für den Staatsvertrag war und durch die Neutralität erst für die Sowjets akzeptabel wurde. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 26.10.2012)