"Die Orange Revolution wäre die Gelegenheit gewesen, der Ukraine eine europäische Perspektive zu geben", sagt Historiker Andreas Kappeler.

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Umstrittene Manifestation ukrainischen Nationalbewusstseins: Feier zum 70. Gründungstag der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die ab 1942 in der Westukraine gegen Nazis und Sowjets kämpfte, aber auch Massaker an polnischen Zivilisten verübte. 

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Andreas Kappeler, Historiker und Buchautor, blickt im Gespräch mit Josef Kirchengast auf ein Land zwischen russischer Hegemonie und europäischer Einseitigkeit.

STANDARD: Sie kennen die Ukraine von Ihren Forschungsarbeiten sehr gut. Ist es nicht völlig egal, wer die Parlamentswahlen am Sonntag gewinnt, weil die sogenannten Eliten ohnehin tun, was sie wollen?

Kappeler: Wahrscheinlich denkt eine Mehrheit der Ukrainer genau das. Nachdem sie von den Helden und Heldinnen der orangen Revolution und inzwischen mehrheitlich auch vom neuen Präsidenten Wiktor Janukowitsch enttäuscht wurden, erwarten sie sich von dieser Wahl keine großen Änderungen. Zumal in der Opposition keine echte Alternative sichtbar ist. Die Einzige wäre Julia Timoschenko, und die sitzt im Gefängnis.

STANDARD: Kann von der Wahl dennoch Signalwirkung ausgehen?

Kappeler: Das finde ich schon. Ich bin über die Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Jahre besorgt: Machtkonzentration beim Präsidenten, Einschränkung der Medienfreiheit, Druck auf einzelne Intellektuelle, was ich aus persönlichen Kontakten weiß, Umschreiben der Schulbücher - im Ganzen eine Richtung, die auf das russische Modell der gelenkten Demokratie hinauslaufen kann. Wenn die Wahlen mit einem großen Sieg der Partei der Regionen (von Janukowitsch, Anm.) enden, dann ist eine solche Entwicklung fast unausweichlich. Wenn die Opposition relativ stark ins neue Parlament kommt, dann hoffe ich, dass diese Entwicklung gestoppt werden kann.

STANDARD: Immer noch gilt aber Meinungsfreiheit als bleibendes Erbe der orangen Revolution.

Kappeler: Die Ukraine hatte nach der orangen Revolution die freieste Medienlandschaft und die fast einzigen freien Wahlen im postsowjetischen Raum mit Ausnahme des Baltikums. Diese Entwicklung ist gefährdet. Derzeit sind die zivilgesellschaftlichen Elemente noch vorhanden und werden sich hoffentlich wehren gegen weitere Einschränkungen.

STANDARD: Ihr neuestes Buch beleuchtet das komplexe ukrainisch-russische Verhältnis am Beispiel eines Wissenschafterehepaares. Inwiefern spielt dieses Verhältnis für die aktuelle Lage der Ukraine eine Rolle?

Kappeler: Einerseits versuche ich zu zeigen, dass die Verflechtungen Russlands und der Ukraine, der Russen und der Ukrainer, besonders eng waren. Auf persönlicher Ebene gab und gibt es kaum innerethnische Spannungen. Die andere mir sehr wichtige Botschaft: Seit dem 19. Jahrhundert wird das Verhältnis von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt.

STANDARD: Das heißt, Russland akzeptiert die Ukraine nicht als eigenständige Nation?

Kappeler: Russland betrachtet die Ukraine als Teil einer orthodoxen allrussischen Nation. Es ist ein imperiales Verhältnis. Russland und weite Teile der russischen Gesellschaft nehmen die Ukrainer und deren Staat nicht wirklich ernst. Die ukrainische Sprache wird als verdorbenes Russisch angesehen, die ukrainische Hochkultur als Bauernkultur herabgemacht.

STANDARD: Trifft das Klischee von der Spaltung der Ukraine in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten im Wesentlichen zu?

Kappeler: Von einer Spaltung würde ich nicht sprechen. Aber die Unterschiede in der kulturellen und sprachlichen Ausrichtung, im historischen Bewusstsein und in der heutigen politischen Orientierung sind groß. Genau jene westlichen Gebiete, die einst unter polnisch-litauischer und teilweise habsburgischer Herrschaft standen, wählen seit den 1990ern eher europanahe Parteien; die erst im 19. Jahrhundert besiedelten Gebiete im Osten und Süden sind eher prorussisch ausgerichtet.

STANDARD: Die EU gibt der Ukraine keine Beitrittsperspektive. Das als Ersatz gedachte Assoziierungs- Freihandelsabkommen liegt wegen des Falls Timoschenko auf Eis. Ist diese Politik der Lage angemessen?

Kappeler: Die orange Revolution wäre die Gelegenheit gewesen, der Ukraine eine europäische Per spektive zu geben. Das hat man nicht ausreichend getan. Jetzt kann die EU die aktuelle politische Tendenz nicht einfach schlucken. Die Inhaftierung Timoschenkos und anderer Exminister ist nicht hinnehmbar. Andererseits wäre es schlecht, die Tür zuzuschlagen, denn damit triebe man die Ukraine in die Arme Russlands. Die EU sollte wirtschaftlich präsent bleiben, die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen ausbauen, das Visa-Regime liberalisieren. Die Ukrainer stehen Schlange vor unseren Botschaften in Kiew.

STANDARD: Offenbar mangelt es im Westen an einem der Realität angemessenen Bewusstsein.

Kappeler: Der Westen, Europa, hat die russische Position weitgehend übernommen. Aus westlicher Sicht steht die Ukraine seit 200 Jahren im Schatten Russlands, gelten ukrainische Sprache und Kultur als Variante des Russischen, werden ukrainische Namen russisch geschrieben etc. Die Ukraine hat noch immer keinen festen Platz auf der mentalen Landkarte der Westeuropäer. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 23.10.2012)