Als Barack Obama 2008 zum Präsidenten der USA gewählt wurde, durchbrach er eine Schallmauer. Zum ersten Mal stieß ein Afroamerikaner an die Spitze des nach wie vor mächtigsten Staats der Welt vor. Seine Wiederwahl hängt maßgeblich von wirtschaftlichen Faktoren ab, von außenpolitischen Entwicklungen und von der Permanenz-Debatte, ob der Staat auch für Soziales, Schulisches und Kulturelles verantwortlich sein soll oder nicht. Die von Obama zumindest teilweise durchgesetzte staatliche Krankenversicherung ist nur eines von mehreren Streitthemen.

Im Hintergrund aber spielen rassische und religiöse Fragen eine mitentscheidende Rolle. Denn sollte Obama gegen Mitt Romney verlieren, wäre für längere Zeit der Weg für nichtweiße Kandidaten verbaut. Hispanics beispielsweise sind auf der Ebene der Kongressabgeordneten oder der Bürgermeister im Vormarsch. Für sie ist Obama daher eine Art Pacemaker.

Zwanzig von hundert Amerikanern sind immer noch der Meinung, der Präsident sei ein Muslim. Das in Kombination mit afroamerikanisch ist eine Waffe weit rechts stehender Republikaner im Wahlkampf. Romney ist Mormone. Seine 13 Millionen Menschen umfassende Kirche hat erst 1978 durch eine "Offenbarung" das Verbot aufgehoben, dass auch Schwarze ein Priesteramt ausüben können - mit der Einschränkung freilich, es müsse sich um "treue und würdige Menschen" handeln.

Obama selbst streitet nicht ab, dass sein Vater, ein Kenianer, Muslim, später Anglikaner war. Seine Mutter, eine Weiße aus Kansas, machte sich aus Religionen nichts. Aufgewachsen ist er bei seinen (weißen) Großeltern in einem protestantisch-"evan gelikalen" Milieu. Daran erinnert seine später bewusst an schwarzen Predigern geschulte politische Rhetorik.

Obamas Vize Joe Biden kommt aus dem katho lischen Arbeitermilieu des amerikanischen Nordostens. Dort haben sich sozial orientierte Einstellungen gehalten, der "linke" italienische Katholizismus ist prägend. Ganz anders der Katholik Paul Ryan, Vizepräsidentschaftskandidat Romneys. Sein Vater stammt von irischen Einwanderern ab, seine Mutter von Migranten aus Bayern. Sie halten heute noch am Namen "Hutter" fest. Ryans Glaube ist eins mit Papst Benedikt XVI.

Während in Westeuropa religiöse Zuordnungen (fast) keine Rolle mehr spielen, sind sie in den USA fester Bestandteil politischer Entscheidungen. Weshalb auch zu wünschen wäre, dass in den TV- und Radiosendungen der Wahlnacht die religiösen Landkarten der Swing-States, der entscheidenden Teilstaaten, gezeigt und interpretiert werden.

Gewinnt Barack Obama seine zweite Präsidentenwahl, dann gewinnen die Träume schwarzer Leitfiguren wie Martin Luther King die Wirklichkeit. Verliert Obama, erleidet nicht nur das schwarze Amerika einen Rückschlag. Es wäre auch eine Niederlage für die Kultur des "anderen Amerikas", die sich auf die Showbühnen genagelt und in die Welt der Bücher verbannt fühlen würde.

Am 6. November fällt diese Richtungsentscheidung. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 22.10.2012)