Anthony Atkinson: Wir wissen nach Jahrzehnten von Umstellungen der Pensionssysteme, dass die private Vorsorge nicht zufriedenstellend funktioniert.

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Wie könnte eine gerechtere Verteilung aussehen?

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Standard: Sie haben viel über Einkommensverteilung publiziert. Gibt es einen Zusammenhang von Ungleichheit und Finanzkrise?

Atkinson: Beide Entwicklungen sind in meinen Augen zu einem Gutteil auf die Deregulierung und Expansion des Finanzsektors mit der gesteigerten Risikobereitschaft zurückzuführen. Gleichzeitig sind in der Finanzindustrie Löhne und Gewinne - vor allem in den USA - explodiert. Wenn man sich die Daten genau ansieht, kann man aber feststellen, dass die restliche Einkommensverteilung in den zehn Jahren vor der Krise nicht ungleicher geworden ist. Das unterminiert die Auffassung, dass es einen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Finanzkrise gebe. Es geht eher um hohe Ungleichheit als steigende Ungleichheit.

Standard: Wenn die Deregulierung größter Krisenverursacher ist: Soll der Staat wieder alles regeln?

Atkinson: Vor allem in den anglosächsischen Ländern hat man sich stärker auf den Markt und weniger auf den Staat verlassen. Das hat zur Aufblähung des Finanzsektors geführt. Ein Beispiel sind die Einschnitte in den Pensionssystemen, die zu mehr privater Vorsorge via Finanzveranlagungen führten. Die Suche nach Rendite hat zur Blase an den Immobilienmärkten in vielen Ländern stark beigetragen. In Großbritannien war etwa der Boom bei Hypothekenkrediten eine Folge gestiegener privater Vorsorge.

Standard: Was ist die Alternative, wenn die Pensionssysteme wegen der Alterung der Gesellschaften nicht mehr nachhaltig sind?

Atkinson: Wir wissen nach Jahrzehnten von Umstellungen der Pensionssysteme, dass die private Vorsorge nicht zufriedenstellend funktioniert. Momentan kommen die niedrigen Zinsen dazu, die an den Ersparnissen zehren. Der Staat ist sehr wohl in der Lage, die Altersvorsorge zu finanzieren. Genau das müssen die Staaten tun und die Politiker erklären. Eine alternde Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn die arbeitende Bevölkerung höher besteuert wird. In den meisten Industriestaaten wird es ohne eine Anhebung der Abgaben um drei bis vier Prozentpunkte nicht gehen.

Standard: Gerade in Kontinentaleuropa ist das Steuerniveau schon sehr hoch. Befürchten Sie keine negativen Auswirkungen auf das Wachstum, wenn weiter an der Steuerschraube gedreht wird?

Atkinson: Es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass Wachstum mit der Höhe der Steuern zusammenhängt. Ländervergleiche geben keinen Aufschluss in diese Richtung. Klar ist, dass wir auch mehr Geld für Bildung und Umwelt benötigen. Das ist eine Frage der Fairness zwischen den Generationen. Deshalb sollten bei einer höheren Besteuerung gerade die Älteren einen Beitrag leisten. Die künftigen Generationen haben nicht mehr diese Perspektive, die wir hatten. Deshalb sollten wir die Steuerbelastung von den Jüngeren zu den Älteren verschieben. Zum Beispiel werden viele Pensionisten nicht besteuert.

Standard: In Österreich greift der Spitzensteuersatz von 50 Prozent ab 60.000 Euro. Ist man da reich?

Atkinson: Das ist eine niedrige Schwelle, in Großbritannien greift der Höchstsatz bei rund 160.000 Euro. Ich denke aber eher an Kapitaleinkommen, die im Vergleich zu Erwerbseinkommen niedrig besteuert und nicht mit Sozialbeiträgen belastet werden. Es ist zudem befremdlich, wenn Länder keine Erbschaft- und Schenkungsteuer haben. Hier geht es auch um Chancengerechtigkeit: Wer viel erbt, hat völlig andere Möglichkeiten, sei es bei Bildung oder Unternehmensgründung.

Standard: Droht bei höheren Steuern nicht Abwanderung von Leistungsträgern - siehe Frankreich?

Atkinson: Die neue Steuer in Frankreich ist tatsächlich sehr hoch. Es geht auch nicht nur um Besteuerung, sondern um Einkommenspolitik generell. Wie werden Produktivitätsgewinne verteilt? Eine gemeinsame Einkommenspolitik wäre für die Eurozone ebenso wichtig wie eine gemeinsame Finanzpolitik. In Europa ist die Beschäftigung bis Ausbruch der Krise massiv gestiegen, ohne dass sich das positiv auf die Ungleichheit ausgewirkt hätte. Denken Sie nur an die Billigjobs in Deutschland. Beschäftigung allein reicht nicht, um die sozialen Probleme zu lösen. (Andreas Schnauder, DER STANDARD, 20./21.10.2012)