David steht die Anspannung förmlich ins Gesicht geschrieben. "Was ist mit dir? Hast du ein Problem?", wird er von einem etwa 35-jährigen Mann angeblafft. Noch ehe er realisiert, was überhaupt los ist, bekommt David auch schon den ersten Rempler ab. Der Schüler taumelt mehrere Meter zurück, verliert beinahe das Gleichgewicht. Der Mann setzt großen Schrittes nach, holt zum rechten Haken aus - doch David reagiert blitzschnell: Mit seinem linken Unterarm blockt er den Schlag ab, der schließlich an seinem Ellbogen in die Leere abrutscht.

Mit dem Schwung der Gegenbewegung schubst David seinen Gegner aus der Gefahrenzone. Anschließend richtet der 14-Jährige seine Arme mittig vor seinen Körper, die Handflächen nach außen hin offen, sein Blick entschlossen auf sein Gegenüber fokussiert. Davids Körpersprache signalisiert: Ich suche keinen Streit, doch komm mir bloß nicht zu nah.

Lob vom Angreifer

"Gut gemacht", lobt ihn plötzlich sein Angreifer. Die beiden reichen sich höflich die Hände. Der Mann heißt Geri Pichler - und ist nicht etwa ein pöbelnder Rowdy, sondern seit acht Monaten Davids Trainer im Wing-Tsun-Selbstverteidigungskurs.

Dann geht es zur nächsten Übungseinheit, den Grundbewegungen von Wing Tsun. Für Laien sehen die schlangenartigen, artistischen Bewegungen wie Tai-Chi-Übungen aus. Auch wenn die Körper der Kinder locker wirken, so verlangt ihnen das Wing-Tsun-Training doch eine Menge Gleichgewichtssinn und Körperbeherrschung ab.

Simulation des Ernstfalls

Die Konfrontation, wie sie David vor wenigen Minuten mit seinem Trainer durchgespielt hat, simuliert den Ernstfall. Der Schüler weiß jedoch, wie sich ein solcher anfühlt: Es geschah an einem Juliabend im letzten Jahr, David fiel zu Hause die Decke auf den Kopf, und so ging er noch mal auf einen Spaziergang raus über den Brunnenmarkt. "Plötzlich kam ein Mann und hat mich angeschrien", erinnert sich der 14-Jährige: "Der wollte mein Geld, aber ich hatte gar keines bei mir." Im Augenwinkel erkennt David noch rechtzeitig, dass der Mann ein Messer in seiner linken Hand trägt. Er sticht zu - nur mit Glück kann David noch ausweichen. Ein bisschen hat ihn das Messer dennoch gestreift.

David zieht sein Shirt hoch, unter dem eine kleine Narbe an seinem Bauch zu sehen ist. Der Mann setzte zu einem zweiten Stich an. David wehrte sich jedoch instinktiv, hat Glück und bricht seinem Gegenüber den Arm. Ohne sich umzuschauen, flieht der Schüler, so schnell er kann.

David Trainingskamerad Ian war Gott sei Dank noch nie in einer solchen Situation, doch auch er hat schon mehrere Schlägereien in seiner Schule beobachtet. Neulich erst schlug ein Siebtklässler einen zwei Köpfe kleineren Viertklässler zusammen. Unsicher fühlt sich der 14-Jährige zwar nicht, dennoch hält er Selbstverteidigung für äußerst wichtig: "Das sollte jeder einmal im Leben gemacht haben."

Mehr Gewaltbereitschaft?

"Die Gewaltbereitschaft ist dermaßen gestiegen", findet Trainer Geri Pichler, der jede Woche aufs Neue Erzählungen von seinen Schülern mitbekommt. Die Hemmung sei bei den Kindern einfach nicht mehr da, meint der 36-Jährige. Zu seiner Jugendzeit hörten die Raufereien noch beim Schwitzkasten auf; spätestens aber, sobald ein Kind auf dem Boden lag. Heute würde dann erst recht noch mal zugetreten und das Ganze mit Handykamera gefilmt werden.

Die Anzahl der strafanfälligen Jugendlichen in Österreich blieb zwar über die Jahre in etwa gleich, doch die Qualität der Delikte ändert sich sehr wohl. So stieg der Anteil an Körperverletzungen an. Im Jahr 2010 kamen in Wien 6737 Jugendliche mit dem Gesetz in Konflikt, mehr als die Hälfte wegen Diebstahls und Raubs.

Geri Pichler leitet die Jugendgruppen des Wing-Tsun-Studios im sechsten Wiener Gemeindebezirk. Sein Ziel ist es, dass seine Schüler, die oft verängstigt und mit gebückter Haltung ins Training einsteigen, dieses am Ende des Semesters mit erhobenem Haupt und prallem Selbstbewusstsein wieder verlassen.

Von den Lehrern in Stich gelassen

Der zwölfjährige Simon reist extra aus dem Burgenland zum Wing-Tsun-Training an. In seiner alten Schule wurde er schon zweimal geschlagen und regelmäßig gemobbt, sodass er schließlich die Schule wechselte. Oft fühlte er sich bei den Hänseleien gar von den Lehrern im Stich gelassen. "Am Anfang sagen sie immer, dass sie was dagegen machen, doch am Ende kam gar nichts mehr", erinnert sich Simon. Laut Statistiken erzählt nur jeder zehnte Schüler seinem Lehrer, wenn er gemobbt wurde. Fast die Hälfte spricht mit niemandem von den Vorfällen, nicht einmal mit engen Freunden.

Wing Tsun ist ein System, das genau die stärken soll, die sich ohnmächtig und im Stich gelassen fühlen. Der Legende nach wurde es in Südchina von einer Frau entwickelt. Mit der Kampftechnik sollten sich Zivilisten, die in Kriegszeiten oft als "Freiwild" gefährdet waren, effizient verteidigen können. Es fand seinen Weg über einen Meister namens Yip Man, der in Hongkong eine Schule gründete, über seinen Schüler Lee Siu-Lung, der westlichen Welt besser bekannt als Bruce Lee, den Weg Richtung Westen.

Technik für den Pausenhof

Nun, 250 Jahre danach, am entgegengesetzten Ende des Globus, lernen die Jugendlichen sich mit der gleichen Technik im Pausenhof und auf der Straße durchzusetzen. Wing Tsun ist jedoch kein Kampfsport. Es gibt keine Regeln, keine Turniere, keine Sieger, keine Verlierer, sondern die Schulung von Körperbewusstsein, Reaktion und Erkennen, wie man am besten ungeschoren davonkommt: "Durch die Regeln eines Sports werden die eigenen Fähigkeiten nur entschärft. Bei uns lernt man Techniken, wie auch körperlich Schwächere bei einer Konfrontation die Oberhand behalten können", sagt Schulleiter Matthias Gold. Der 37-Jährige trainiert Wing Tsun mittlerweile seit einem Vierteljahrhundert.

Er hofft, dass seine Wing-Tsun-Schüler so selten wie möglich Gefahrensituationen erleben. Sein Rat, wie ein 14-Jähriger am besten reagiert, sollte er von einem Zwei-Meter- Riesen bedroht werden: "Davonlaufen - der vermiedene Kampf ist immer der beste." (Fabian Kretschmer, Passt!, DER STANDARD, 19.10.2012)