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Wer deutet sie richtig, die Zeichen der Zeit? - Bernd Marin  und Hannes Androsch fordern von Karl Blecha (Bild) mehr Respekt für Andersdenkende

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An den "lieben Charly Blecha" und andere Gleichgesinnte in und außerhalb der Sozialdemokratie:

Wohlfahrtsstaat ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Dies gilt insbesondere für eine angemessene Altersversorgung. Unser Wohlfahrtsstaat darf daher nicht durch Überdehnung und Überforderung gefährdet werden. Deshalb ist den demografischen Veränderungen Rechnung zu tragen.

Von der Einführung des ASVG 1955 bis in die 1970er-Jahre betrug die durchschnittliche Zeit in der Pension unter 15 Jahre, heute sind es mehr als 25 Jahre. Österreich hat eines der niedrigsten durchschnittlichen Pensionsantrittsalter und die jüngsten Frühinvaliditätsrentner. Die 2003 eingeführte und inzwischen in irreführender Weise noch immer als " Hacklerregelung" bezeichnete Möglichkeit für Frühpensionierungen hat diese Situation noch verschärft. In Zukunftsverantwortung wie im Interesse der Generationengerechtigkeit haben sich über 50 Experten zusammengetan, um auf die Dringlichkeit zeitgemäßer Änderungen unseres Pensionssystems hinzuweisen. Dabei sind sie von verschiedener Seite auf für uns unverständliche Kritik und unangebrachte Polemik gestoßen. Diese Haltung ist Ausdruck verantwortungsverweigernder Zukunftsvergessenheit.

Leadership heißt nicht ...

So entnehmen wir dieser Tage den Zeitungen, dass der überparteiliche Seniorenrat namens der Präsidenten Blecha und Khol unsere Initiative von über 50 Ökonomen und Wirtschaftsfachleuten für eine nachhaltige Pensionsreform nach schwedischem Muster - Beitragskonten auf Umlagebasis - als "Kampagne von neoliberalen Interessengruppen" abqualifiziert und als "schlimmsten Anschlag auf Junge und sozial Schwache in den letzten Jahrzehnten" verurteilt hat. Es sei nicht nur "ein Angriff auf die soziale Sicherheit in Österreich", sondern auch ein "Angriff auf die Jugend, Witwen sowie Künstler", also auf die große Mehrheit der Bevölkerung.

Schon zuvor waren die Präsidenten von AK und ÖGB, die Genossen Foglar und Tumpel, "verärgert über Verunsicherung und Irreführung" angesichts eines Aufrufs, den nicht nur ihre Sozialpartner, die Präsidenten Leitl und Kapsch sowie zahlreiche führende Unternehmerpersönlichkeiten mit unterzeichnet hatten, sondern auch ganz im Sinne der wiederholten Forderungen aller internationalen Organisationen von der OECD bis zur EU-Kommission und deren (übrigens sozialdemokratischen) Sozialkommissar László Andor ist. Die AK Vorarlberg sprach gar selbstverräterisch von " Expertenhetze".

Als Proponenten und als entschiedene und überzeugte Unterstützer dieser Initiative müssen wir diese Unterstellungen scharf zurückweisen und uns - als Sozialdemokrat sowie als Wissenschaftler - gegen die unwahren, einfältigen und professionell wie auch menschlich zutiefst beleidigenden Anwürfe verwahren.

Nur so viel: Zu den Proponenten gehören 50 der weltbesten Ökonomen und Sozialwissenschafter Österreichs, von London über Zürich und Wien bis Zhuhai. Sie repräsentieren das geballte Fachwissen ihrer Disziplinen, darunter viele Preisträger (etwa Prof. Wolfgang Lutz als Wittgenstein-Preisträger), einschließlich des einzigen, in den letzten Jahrzehnten benannten österreichischen Nobelpreiskandidaten für Wirtschaftswissenschaften (Prof. Ernst Fehr, Zürich, übrigens einst studentischer Mitbetreiber des "Roten Börsenkrach").

Mit Professoren wie Badelt, Biffl, Doralt, Fürnkranz-Prskawetz, Holzmann, Keuschnigg, Kramer, Mazal, Münz, Pichler, Friedrich Schneider, Streissler, Tichy, Tomandl und Winckler sind maßgebende Protagonisten der österreichischen Pensionsreformdebatte und der Universitäten vertreten. Viele Top-Experten sind nicht nur renommierte Fachleute, sondern auch als progressive (eher "linke") Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler bekannt, wie etwa Kurt Bayer, Markus Knell, Michael Landesmann, Dalia Marin, Stein Ringen, Bert Rürup, Alexander Van der Bellen, Pieter Vanhuysse oder Anthony Giddens, langjähriger Leiter der London School of Economics, Begründer des "Dritten Weges" und Theoretiker von "New Labour".

Und wenn schon Manager, Industrielle und Finanzleute wie Willibald, Cernko, Hans-Peter Haselsteiner, Willi Hemetsberger, Georg Kapsch, Herbert Paierl, Richard Straub, Johannes Strohmayer, Hilde Umdasch und Norbert Zimmermann unter dem Pauschalverdacht ökonomstischer Rationalität stehen sollten, so wird man ehemalige Politiker wie Franz Fischler, Andreas Staribacher oder einen ehemaligen SPÖ-Vizekanzler und langjährigen Finanzminister wohl kaum "neoliberaler" Umtriebe bezichtigen können: Sie alle verstehen sich als Vertreter einer modernen, öko-sozialen Marktwirtschaft.

Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger als einen unvoreingenommenen fachlichen und sachlichen Dialog um die besten Pensionsreformvarianten auf der Höhe der Zeit, statt Gesprächsverweigerung zu praktizieren und alle Reformkräfte zu diffamieren. Zu unterstellen, die Einführung eines Pensionsmodells nach dem Vorbild Schwedens - dessen Wohlfahrtsstaat gerade wir Sozialdemokraten mit Recht seit Jahrzehnten als Maßstab nehmen - würde zu mehr Altersarmut und Ungerechtigkeit in Österreich führen, ist blanker Unfug. Das Gegenteil ist wahr.

... dem Gefolge zu folgen

Ganz allgemein gilt das schwedische Modell von Beitragskonten auf Umlagebasis als eines der besten, stabilsten, nachhaltigsten und sozialsten weltweit, Es geht um die Weiterentwicklung unseres Generationenvertrages und unserer Pensionsregelungen hin zu mehr Beitragsgerechtigkeit, nicht um Einführung eines Kapitaldeckungsverfahrens. Wir wollen eine optimale Kombination der Vorteile beider Systeme, einschließlich einer beitragsunabhängigen, bedarfsgeprüften Grundsicherung. Gleichzeitig brauchen wir mehr Transparenz, Fairness und auch deutlich bessere Erwerbsanreize statt verlockender Ausstiegsprämien und Pensionsprivilegien aller Art.

Lieber Charly Blecha: Wir wissen seit Carl Schmitt dass Politik ein durchaus "polemisches Gewerbe" ist - in dem Du Dich nun schon seit Jahrzehnten recht erfolgreich bewegst. Aber das kann kein Freibrief sein für die Missachtung von Anstand und Wahrhaftigkeit sowie des Respekts auch für Andersdenkende in der Bewegung, der wir seit Jugendtagen angehören. Als Koordinator des neuen SPÖ-Parteiprogramms hast Du gerade erst den "Dialog zwischen allen Interessierten" angekündigt und vorgeschlagen, "wirklich namhafte Wissenschafter unserer Zeit dazu einzuladen. Das müssen nicht einmal Sympathisanten der Sozialdemokratie sein. Gscheit müssen sie sein und wir müssen sie uns anhören".

Das kannst Du gleich umsetzen, indem Du uns Vertreter des "Aufrufs für eine umfassende und nachhaltige Reform des österreichischen Pensionsversicherungssystems", zum Dialog einlädst und wie angekündigt " zuhörst", statt uns über die Presse zu beschimpfen und zu beleidigen. Dein Kompagnon vom Seniorenbund Andreas Khol, einer der Architekten von Schwarz-Blau, hat die "Wahrheit als Tochter der Zeit" herabgewürdigt, aber so weit soll es nicht kommen.

Inzwischen sind viele Menschen viel weiter als die Politik und ihre Funktionäre, und Leadership heißt nicht, dem Gefolge zu folgen. Das würde nämlich unsere Pensions- und Wohlfahrtsprobleme nicht lösen, sondern nur verschärfen. Wir aber wollen Sozialversicherung und Wohlfahrt im 21. Jahrhundert sichern und nicht durch Reformblockaden gefährden und zerstören (Hannes Androsch, Bernd Marin, DER STANDARD, 19.10.2012)