Mark Terkessidis setzt auf Interkultur statt Integration. "Pädagogen brauchen Kontextwissen. Interkulturelle Kompetenz ist mir zu ethnisch."

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STANDARD: Ist "Interkultur", für die Sie plädieren, das, was kommt, wenn "Multikulti" gescheitert ist?

Terkessidis: Wann war denn noch mal Multikulti? Es hat im deutschsprachigen Europa nie eine Strategie gegeben, die Multikulturalismus geheißen hat. Mein Problem mit der Idee war immer das Schubladendenken. Man ging davon aus, dass Leute ihre Herkunft repräsentieren, bestimmte Arten von Tradition pflegen und in Communitys zusammenleben. Und diese Communitys sollten dann möglichst kommod nebeneinander existieren. Die Frage ist: Will ich in so einem Raum leben, der ja sehr statisch organisiert ist?

Da ist keine Entwicklung vorgesehen. Die Idee von Interkultur dagegen sagt: Okay, ich verleugne nicht, dass jeder bestimmte Ideen von seiner Herkunft hat, einen Referenzrahmen, in dem Ethnizität auch eine Rolle spielt. Aber ich möchte das gern dynamisieren und dafür eine Strategie entwickeln. In erster Linie müssen sich die Institutionen der Gesellschaft darauf einstellen, dass sie mit Vielfalt konfrontiert sind.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Terkessidis: Interkultur heißt Perspektivenwechsel. Bei Integration ging man davon aus: Da sind Leute, die haben Defizite, und die müssen wir irgendwie kompensieren neben dem Regelbetrieb der bestehenden Einrichtungen, die sich nicht verändern müssen. Interkultur dreht den Blick um und sagt: Okay, wir haben eine Gesellschaft, die ist vielfältig, in der leben sehr unterschiedliche Leute. Sicher gibt es Defizite, aber auch viele Potenziale. Und wir fragen uns, ob die gesellschaftlichen In stitutionen fit sind für diese Vielfalt.

STANDARD: Gibt es fittere und weniger fitte Institutionen?

Terkessidis: Alle sind zur Zeit ganz am Anfang. Aber in Deutschland arbeitet zum Beispiel das Rote Kreuz relativ stringent an interkultureller Öffnung. Sie achten bei Plakatkampagnen darauf, nicht immer die gleichen Gesichter zu zeigen, haben Ideen für Personalentwicklung und machen Sensibilisierungstrainings, auch in Bezug auf Rassismus. Die haben es auch nötig, denn gibt es enorme Probleme beim ehrenamtlichen Nachwuchs.

STANDARD: Jedes vierte Kind in Österreich und jedes zweite in Wien hat Migrationshintergrund. Inte grationsstaatsekretär Sebastian Kurz (ÖVP) schlägt eigene Sprachvorschulklassen vor, um Kinder mit Deutschdefiziten schulfit zu machen. Was halten Sie davon?

Terkessidis: Das halte ich für eine ganz schlechte Idee. Widerspricht wirklich jeder Idee von moderner Pädagogik. Man könnte das "separatistischen Spracherwerb" nennen. Man legt eine Norm fest und sondert alle aus, die Defizite in der Sprache haben. Das hat sich auch nach den Erfahrungen in Deutschland nicht als fruchtbar erwiesen. Besser wäre ein inklusives Konzept, ein programmatisch interkulturisierendes Konzept für "Deutsch als Zweitsprache". Gestaffelt, vom Kindergarten an, läuft das fünf bis acht Jahre im Regelunterricht mit.

STANDARD: Was würde dieses Konzept für den Unterricht bedeuten?

Terkessidis: Das heißt, etwa der Mathematiklehrer erwirbt im Studium die Fähigkeit, Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten und tut das dann in Bezug auf seinen Unterricht. Er wäre in der Lage, sich individualisierend auf die jeweiligen Kinder einzustellen, und denen die Sprachkompetenz zu vermitteln, die sie brauchen, um seinem Unterricht zu folgen.

Man könnte auch die Lehrer, die jetzt die Sonderklasse unterrichten, mit in den Mathe-Unterricht stellen. Das ist ein inklusives Konzept. Sonderklassen sind alte Integrationslogik, die auch stigmatisierend wirkt. Wir wissen doch, dass über solche Maßnahmen nicht aufgeholt wird. Wie viele Kinder will man in Sonderklassen stecken? Was, wenn die Mehrheit die "Norm" nicht erfüllt? In Deutschland hat ein Viertel der Kinder mit deutscher Muttersprache erhebliche Defizite.

STANDARD: Wie sähe ein interkulturell gelungener Kindergarten aus?

Terkessidis: Erst mal ein inklusives Spracherwerbskonzept, auch als Signal, dass die Muttersprachen der Kinder wertgeschätzt werden, was im besten Fall bedeutet, dass man auch Erzieher hat, die diese sprechen. Mein Sohn ist in einem Kindergarten, wo nominell etwa 80 Prozent der Kinder Migrationshintergrund haben. Da gibt es auch türkisch-, russisch-, griechischsprachige Erzieherinnen und ein Konzept von mehrsprachiger Erziehung. Nichtsdestotrotz gibt es ein klares Spracherwerbskonzept für Deutsch. Das ist klar.

STANDARD: Was brauchen die Pädagoginnen und Pädagogen dafür?

Terkessidis: Das Personal im Kindergarten, und noch mehr das in der Schule, hält sich ja sozusagen wie von selbst für gut. Gut bedeutet, sie können auf keinen Fall Vorurteile haben. Wenn aber alle Untersuchungen zeigen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung Vorurteile hat oder, wie ich das nennen würde, "rassistisches Wissen", warum dann dieses Personal nicht? Das ist kein Grund für eine Moralkrise. Wenn wir den Namen Mehmet hören, denken wir schon etwas. Wir müssen doch nicht so tun, als ob das nicht der Fall wäre.

Diese Wissensbestände sollten in der Pädagogenausbildung und auch fortlaufend in der Supervision reflektiert werden. Die Erzieher und Lehrer brauchen Kontextwissen. Interkulturelle Kompetenz ist mir zu ethnisch. Kontextwissen zu geben heißt, Kinder als Individuen zu sehen und etwas über ihre Lebensumstände zu wissen. Ich muss etwas wissen über die Lebensumstände von Leuten, also auch über die Geschichte der Migration oder über das Ausländergesetz.

STANDARD: Was heißt Interkultur für Schulen? Der "Migrantenanteil" wird ja oft als vermeintlich besonders aussagekräftiges Kriterium genannt. Je mehr, umso schlimmer.

Terkessidis: Wir tun so, als sei das eine Katastrophe. Aber was soll das eigentlich heißen: 80 Prozent mit Migrationshintergrund? Ich würde davon ausgehen, das sind 100 Prozent Kinder, kleine Indi viduen. Jede moderne Pädagogik spricht davon, dass Bildung individualisierter werden muss. Alles, was zu mehr Individualisierung führt, führt auch zu mehr Interkulturalität.

In der Schule geht es nicht in erster Linie darum, ein Programm für Kinder mit Migrationshintergrund zu machen, sondern eine individualisiertere Unterrichtsgestaltung einzuführen. Also weg mit Ideen vom "Normkind", den alten Homogenitätsvorstellungen und dem Frontalunterricht aus dem 19. Jahrhundert. Wenn man die Schule allgemein verändern würde im Sinne moderner Pädagogik, dann würden sich viele Probleme im Hinblick auf Migrationshintergrund schnell erledigen.

STANDARD: Sie haben griechischen Migrationshintergrund. Welche Erfahrungen hat Ihnen der beschert?

Terkessidis: In Deutschland und Österreich wird man ständig mit einer Art Herkunftsterror überzogen, gerade als Kind. Ich wurde in der Schule als Experte für Griechenland behandelt, zu einem Zeitpunkt, als ich noch gar nicht in Griechenland war. Man ging von einer Art genetischem Herkunftswissen aus. Ein Geschichte-Lehrer meinte, ich müsste Fachmann für griechische Antike sein.

Klingt lustig, passiert aber heute mit einer gewissen interkulturellen Naivität immer noch, wenn es heißt: Aise, komm mal nach vorn und erklär uns den Islam. Keiner sagt: Theo, komm mal nach vorn und erklär uns den Protestantismus. Dadurch wird jemand, der sich als zugehörig empfindet, eigentlich ununterbrochen anders gemacht. Ein Vater hat es mal so formuliert: Meine Kinder kommen jeden Tag türkischer aus der Schule, als sie reingehen. Darum bin ich absolut dagegen, Ethnizität in den Vordergrund zu rücken. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 18.10.2012)