Abkehr vom Diktat der Schönheit: Egon Schieles "Selbstbildnis mit entblößtem Nabel" (1911), ...

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... derzeit im Guggenheim-Museum in Bilbao.

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Sogar einen Namen gibt es bereits dafür, nämlich entweder Bilbao-oder Guggenheim-Effekt. Faktum ist, dass das ehemalige Eisenschmiedestädtchen im Norden Spaniens zwar schon lange zu den zehn größten Städten und wichtigeren Industriestandorten zählt. Doch touristisch war Bilbao alles andere als ein Hotspot - bis in den 1990er-Jahren ein atemberaubender Architekturboom in der Baskenstadt ausbrach.

Zunächst designte der Brite Sir Norman Foster fast alle Metrobahnhöfe - Fosteritos nennen die Einheimischen die muschelförmigen Eingänge. Der Spanier Santiago Calatrava entwarf die Fußgängerbrücke Zubizuri (zu Deutsch: Weiße Brücke), die sich seit 1997 wie ein aufgeblähtes Segel über den Nervión-Fluss spannt. Im gleichen Jahr, am 19. Oktober 1997, eröffnete nur einen Steinwurf weiter das Guggenheim-Museum nach Plänen des US-Architekten Frank Gehry.

Rund um das Architekturmonument aus Kalkstein, Glas und Titan sammelt sich seither internationale Freiluftkunst: die grandiose Skulptur Eduardo Chilidas; Anish Kapoors Tall Tree & the Eye, zusammengefügt aus 80 spiegelnden Metallkugeln. Louise Bourgeois' neun Meter hohe Bronzespinne Maman. Kitschmeister Jeff Koons legte einen metallig glänzenden Riesentulpenstrauß quasi dem Museum zu Füßen. Und stellte seine mit Blumen bepflanzte Hundeskulptur Puppy vor das Eingangstor. Darüber prangt derzeit weithin sichtbar der Name "Schiele".

Existenzielle Zerrissenheit

Mit 99 Werken aus der eigenen Sammlung stellte sich die Wiener Albertina zum 15. Geburtstag des Guggenheim-Museums im Baskenland ein. Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder, Kurator der Ausstellung, hat sich für Chronologie entschieden.

Das mag nach didaktischer Langeweile klingen, macht aber durchaus Sinn, zumal in einer Stadt, für deren Bewohner und Besucher es Schiele noch zu entdecken gilt: dessen existenzielle Zerrissenheit und radikale Einsamkeit in abgründigen Selbstbildnissen und fahlfarbigen Porträts, die enttabuisierte und enttabuisierende Faszination von Sexualität und Nacktheit - der eigenen und der kindlichen. Letztere trug ihm eine Anklage wegen Kindesentführung und Kindesmissbrauchs ein, ihm drohten 20 Jahre schweren Kerkers.

Zwar wurde die Anklage fallengelassen; aber Schiele verbrachte drei Wochen in Gefängnissen von Neulengbach und St. Pölten. Die mit jedem Strich erschreckendere und erschrockenere Werkserie dieser Zeit ist ebenso zu sehen wie das einzige Blatt, das Schiele bei der Arbeit zeigt: Die Rückenansicht eines Modells zeichnend, werden beide von einem Spiegel reflektiert.

Es sind zwei auf sich selbst reduzierte Gestalten im Nirgendwo, denn den Spiegel hat Schiele nicht gezeichnet, auch andere Raumdekors fehlen. Schröder nennt es die "Anwesenheit des Abwesenden": die Sitzende ohne Stuhl; der Cellospieler ohne Cello und ohne Bogen; die Frau, die eine andere, allerdings unsichtbare, Person umarmt: Gesten, die ins Nichts gehen.

Man mag sich wundern, warum Schiele in dem für Gegenwartskunst konzipierten Museum gezeigt wird. Doch mit seiner radikalen Abkehr von künstlerischer Tradition und dem bis dahin geltenden Diktat der Schönheit passt Schieles Kunst bestens für und in das dekonstruktivistische, in alle Richtungen ragende und wachsende und beulende Baukunstwerk Frank Gehrys.   (Andrea Schurian aus Bilbao, DER STANDARD, 18.10.2012)