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"Stern"-Autor Walter Wüllenweber sieht die Gesellschaft an den Rändern verlottern.

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"Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut": Der deutsche Wirtschaftsminister und spätere Kanzler Ludwig Erhard hat diese Worte der Nachwelt hinterlassen. Der Vater des deutschen Wirtschaftswunders hat in den Nachkriegsjahren aber auch etwas gemacht, was heute nicht nur in Deutschland absolut verpönt ist. Er bat die Reichen zur Kasse - und das nicht zu knapp.

Verlangt hat er von den Begüterten einen sogenannten "Lastenausgleich" zur Eingliederung der Kriegsvertriebenen. 1948 wurde kurzerhand der Wert der Vermögen geschätzt. Davon mussten die Besitzer glatt die Hälfte abgeben, und zwar über 30 Jahre verteilt. "Würde heute jemand eine Rückkehr der Vermögenden in die Gemeinschaft der Steuerzahler in der Größenordnung des Lastenausgleichs fordern, er würde als ahnungsloser Sozialist beschimpft, als Gefahr für den Standort Deutschland", steckt "Stern"-Autor Walter Wüllenweber den Rahmen für eine Grundsatzdiskussion ab, für die er in seinem akribisch recherchierten Buch "Die Asozialen" reichlich Stoff bietet.

"Bei Erhard nannte man das Wirtschaftswunder. Gäbe es seine geniale Erfindung heute noch, müssten die Vermögenden jedes Jahr rund 27 Milliarden Euro zusätzlich in die Staatskasse zahlen", rechnet Wüllenweber vor. Ober- und Unterschicht, so lautet seine Diagnose, ruinieren das Land. Ihre Gemeinsamkeit: Tricksen. Die einen bei den Steuern, die anderen bei den Transferleistungen. Mit vereinten Kräften werde an den Rändern der Gesellschaft deren Auflösung vorangetrieben. Und der Staat schaue zu, ja unterstütze diese Entwicklung sogar durch die entsprechende Abgaben- und Sozialpolitik.

Die Last lindern

Was die Oberschicht betrifft, so wäre ihr Beitrag zur Linderung der Krisenfolgen nur gerecht, findet Wüllenweber, wenn er auch konzediert, dass eine konkrete Ausgestaltung nicht einfach wäre. Die "Last", die es heute auszugleichen gilt, sei immerhin die Bewältigung der Krise des Finanzmarktes. Eine Last, die Wüllenweber durchaus in verständliche Zahlen zu fassen weiß: Die Größenordnung der Verschuldung aus der Krise entspricht den Kosten der jeweils größten Vorhaben in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mit einem Schuldenhügelchen von 20 Prozent des BIP ging man an den Start. Beim Ausbau des Sozialstaates kamen noch einmal Schulden in gleicher Höhe dazu, den dritten Schub verursachten die Kosten der Wiedervereinigung. Der Hügel wurde mit 60 Prozent zum Berg. Das Krisenmanagement nach der Lehman-Pleite hat die öffentliche Verschuldung der Nachbarn um weitere 15 bis 20 Prozentpunkte anwachsen lassen.

Eine Last, die die Welt dem Geldadel zu verdanken habe, wie Wüllenweber drastisch formuliert. Als prominenten Zeugen ruft er den mittlerweile verstorbenen Harvard-Wirtschaftshistoriker John Kenneth Galbraith auf: "Die Vermögenden sind die Verursacher aller Zusammenbrüche in der Geschichte der Finanzindustrie. Wenn die Reichen zu reich werden, wird es gefährlich." Wer über ein großes Vermögen verfüge, verdiene meist mehr Geld mit Zockerei an der Börse als mit Erwerbsarbeit.

Mythos Leistungselite

Nicht allein die Tatsache, dass Vermögen in Deutschland (ebenso wie in Österreich) vergleichsweise gering belastet werden, ist die Sorge Wüllenwebers. Was ihn viel mehr beschäftigt, ist ein Mythos, an dessen Dekonstruktion er heftiges Interesse zeigt. Die Wirtschaftselite als Leistungselite, das sei ein Bild von gestern. Das Bild des Reichtums sei veraltet, ein verblasster Abzug einer Fotografie. Es zeige die bessere Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren. Damals zeigten sich die Vermögenden mit ihrem Reichtum, und sie beteiligten sich mit hohen Steuerzahlungen nennenswert an der Finanzierung des Staates. Unternehmensgründer waren in der Welt der Habenden noch wer, Erben die Minderheit.

Die Leistungsgesellschaft - Grundlage des deutschen Wirtschaftswunders - habe sich aber zu einer Erfolgsgesellschaft gewandelt, moniert Wüllenweber. Während Leistung Arbeit bedeute, sei Erfolg auch mühelos und mit Hilfe der richtigen Vermögensverwalter zu haben: Erfolg an Renditen und Profit. Ein Unternehmen zu führen sei aktiv, Geld zur Bank zu bringen passiv: Die besitzende Klasse wandle sich vom Aktivposten der Volkswirtschaft zu einem passiven Kostgänger, lautet sein spitzer Schluss. Einen Propaganda-Erfolg könne man den Habenden allerdings nicht absprechen: Sie hätten ihr Image als Leistungselite in weiten Teilen der Bevölkerung etabliert und gefestigt.

Die deutsche Geldelite sei auch keineswegs die vom Finanzamt verfolgte Minderheit, als die sie sich gerne darstelle, konstatiert der Autor. Die Oberschicht gefährde den Wohlstand der gesamten Gesellschaft und überlasse die Finanzierung des Gemeinwesens weitgehend der arbeitenden Mittelschicht. Die Oberschicht, ihr Verhalten und ihre Wertvorstellungen müssten ein Thema in der öffentlichen Diskussion werden, postuliert der Autor - auch wenn sie diese Debatte bisher beharrlich und erfolgreich verweigere.

Der Klub der richtig Reichen

Wüllenweber beklagt, was andere auch feststellen: Sozialwissenschafter (...) vermessen jeden Winkel der Gesellschaft vom gepiercten Pensionisten über den vegetarischen Hundehalter existiere ein detailliertes Bild. Nur von den Reichen wisse man praktisch nichts. Jeder Auseinandersetzung verpasse man sofort das Etikett Neiddiskussion. Ausgerechnet die vermutlich einflussreichste Minderheit entziehe sich der Beobachtung und Beurteilung durch Medien und Wissenschaft. Was Wüllenweber stört: Wenn es um eine Vermögensdebatte geht, stehen immer sofort die Manager als von Berufs wegen sichtbare Reiche im Zentrum. So ist für ihn der falsche Eindruck entstanden, Manager und Reiche seien identisch. Tatsächlich seien Manager nur eine Randgruppe im Klub der richtig Reichen.

Der rekrutiert sich auch bei den Nachbarn vorwiegend aus den Erben (im Gegensatz zu Österreich hat Deutschland die Erbschaftssteuer nicht abgeschafft, Anm.). Und die sind für Wüllenweber eine Klasse für sich, keine Führungsschicht, keine moralische Instanz, keine Klasse von der politische, intellektuelle oder kulturelle Impulse ausgehen, keine Leistungselite. Abgesehen davon, dass die reichen Erben Heerscharen an Vermögensberatern beschäftigen würden mit dem Ziel, keinen Cent Erbschaftssteuer zu entrichten, würden sie sich am stärksten in eine Parallelgesellschaft zurückziehen. Während die Gründergeneration sich noch für die Belange der Gemeinschaft interessiert und engagiert hätte, ließen die neuen Erben das Geld für sich arbeiten, blieben unter sich, zeigten kaum Interesse an politischen Ämtern: zu mühsam, zu schlecht bezahlt.

Erfolg gelte den Reichen nicht mehr als Ergebnis von Leistung, sondern als ein Recht, das einem aufgrund der Herkunft zusteht. Was nicht erstaunt: Nur zehn Prozent aller Erbschaften sind in Deutschland überhaupt erbschaftssteuerpflichtig. Erben ist auch bei den Nachbarn ein Privileg einer absoluten Minderheit. Trotzdem äußert sich die absolute Mehrheit bei Umfragen regelmäßig gegen eine stärkere Besteuerung der Hinterlassenschaften. "Die Mittelschicht verteidigt vehement die Privilegien der Oberschicht", formuliert Wüllenweber, "sie kämpft für die Kinder des Geldadels und gegen die eigenen." Weil über Vermögen, den wahren Reichtum, so wenig bekannt sei, beschäftige sich die Gesellschaft lieber mit ihrem Lieblingsfeindbild: den Besserverdienern.

Der Staat hilft kräftig mit

An der Zementierung der Situation hilft laut Wüllenweber der Staat kräftig mit. Während die Mittelschicht brav Steuern und Sozialversicherungsleistungen abführe, blieben Unternehmensgewinne und Profite aus Kapitalgeschäften - die entscheidenden Einnahmequellen der Reichen - von Sozialversicherungsabgaben verschont. Auch bei den Arbeitseinkommen gibt es nach oben hin Grenzen: Der Milliardär zahlt keinen Cent mehr in die Sozialversicherung ein als seine Chefsekretärin, in aller Regel aber gleich gar nichts: Unternehmer und Selbstständige sind von der Versicherungspflicht generell befreit.

Die stärksten Schultern lassen somit in Wüllenwebers Diktion die Mittelschicht mit den Kosten der Arbeitslosigkeit allein. Sie finanzieren keine Pensionen, bezahlen nichts für die Kosten der Gesundheitsversorgung der sozial Schwachen: "Den Preis der Solidarität zahlen andere, die Superreichen nicht." Und auch was die Steuern betrifft, ortet Wüllenweber nichts als einen dreisten Propagandatrick. Die Einkommenssteuer mache nicht einmal ein Drittel des gesamten Steueraufkommens aus (32,6 Prozent) - die Spitzenverdiener würden davon ein Viertel zahlen - rund acht Prozent der gesamten Einnahmen des Fiskus. Von den Kapitalerträgen zieht das Finanzamt pauschal 25 Prozent ab, beim Arbeitseinkommen wird ein Spitzensteuersatz von bis zu 45 Prozent fällig. Leistung muss sich lohnen? Die deutsche Steuerpolitik fördere nicht Leistung, sondern Reichtum, höhnt der Autor.

Unten kommt nichts an

Die Diskussion werde falsch geführt, moniert Wüllenweber und schreibt noch einmal zusammen, was andere auch schon feststellten: Die wahre Dimension des Reichtums ist nicht das Einkommen, sondern das Vermögen. Diesbezüglich gilt in Deutschland, was auch in Österreich gilt: Vermögen ist ungleicher verteilt als Einkommen und die Vermögenskonzentration hat noch weiter zugenommen. Die großen Gewinner der Umverteilung des jüngsten Jahrzehnts sind die oberen 80.000, das reichste Promille. Früher glaubten viele Wissenschafter an den "Trickle-down-Effekt", daran, dass Reichtum von oben nach unten durchtröpfelt. Reichenforscher Michael Hartmann weiß es in Wüllenwebers Buch besser: "Alle Studien zeigen, unten kommt nichts an."

Unten, das ist für den "Stern"-Autor die nächste Baustelle, die jener der Oberen ähnlicher ist, als man denkt: Beide verabschieden sich gleichzeitig aus der Gemeinschaft und ziehen sich in Parallelwelten zurück. Besonders deutlich würde das bei den Kindern. Hauptschulen entwickelten sich zu Bildungsstätten fast ausschließlich für die Unterschicht, die Kinder der Vermögenden blieben in Privatschulen unter sich: Ghettoschulen für Ghettokinder. Und während die einen immer oben blieben, blieben die anderen immer unten. Beide Milieus hätten Tricksen zum Teil ihrer Lebensform erhoben und würden über enormes Erfahrungswissen beim Aufspüren und Ausnutzen der Lücken im System verfügen. Skrupel seien weder ganz oben noch ganz unten festzustellen. Für das Zerbröseln der Gesellschaft seien beide verantwortlich.

Signatur der Unterschicht

Während der Sozialstaat wirtschaftliche Armut beseitigt habe und keine höheren Transferzahlungen brauche, hapere es an der besseren Bildung. Denn wirtschaftliche Armut sei in unserer Gesellschaft nicht mehr die entscheidende Dimension der Benachteiligung. Mangelnde Bildung, keine soziale Mobilität und damit einhergehend eine ganze Fülle sozialer Probleme sei die Signatur der Unterschicht, die "noch unterschichtiger geworden ist" (Sozialwissenschaftler Wolfgang Hinte).

Die Politik würde die notwendigen Investitionen in ein faires, effizientes Bildungssystem scheuen. Der Unterschicht habe die Politik des Geldverteilens nicht geholfen, sondern geschadet, weil sie ihre wirklichen Probleme verharmlose. Arbeit bedeute Geld und Teilhabe. Keine Arbeit bedeute trotzdem Geld. Aber keine Teilhabe. (Regina Bruckner, derStandard.at, 17.10.2012)