200 Jahre der glanzlosen Randexistenz, unten, ganz unten am Südzipfel Europas sind genug. Dort liegt, so sagt man, die älteste Stadt des alten Kontinents. Dabei spielte Cádiz früher eine wichtige Rolle. Phönizier und Römer bevölkerten sie wegen ihrer strategischen Lage zwischen Atlantik und Mittelmeer.
Später erlangte Cádiz als Handelshafen mit den Kolonien in Lateinamerika Reichtum. Wegen ihrer vielen Silber- und Goldelemente an Fassaden und auf Dächern wird die Stadt auch Silbertässchen genannt.
Zuletzt war sie dann im Jahr 1812 Zentrum des Geschehens: Spanische Parlamentarier wollten es Frankreich und den USA nachtun und versammelten sich in der einzigen freien Stadt des Landes, um eine demokratische Verfassung zu erarbeiten: Napoleon hatte Madrid besetzt, der Unabhängigkeitskrieg tobte, der spanische König war im französischen Exil festgehalten. Nur Cádiz war frei, denn die Stadt liegt auf einer Halbinsel und ist leicht zu verteidigen.
Die Männer unterzeichneten die Verfassung schließlich am 19. März 1812, dem Tag des heiligen Josef. Bis heute wird Spaniens erster Demokratie-Entwurf deshalb "La Pepa" genannt. Bis Jahresende gedenkt das Städtchen noch dieses Ereignisses.
Barock und Muschelstein
Wer durch die Gassen schlendert, wird immer wieder an die glorreiche Vergangenheit erinnert, in der Parlamentarier aus dem ganzen Land und sogar aus Lateinamerika angereist waren, um erstmals Bürgerrechte festzulegen. Und an die Zeit, als schwerbeladene Schiffe aus Übersee kamen: Handelsfamilien, Schiffsagenten und Bankiers bauten prachtvolle Wohnhäuser und gaben Kirchen in Auftrag, ein Teil der Stadt ist im Barockstil angelegt, viele Gebäude sind aus hellem Muschelstein gebaut. Anfang des 19. Jahrhunderts verfiel die Stadt dann in einen jahrhundertelangen Dämmerschlaf.
Dieses Jahr ist das andalusische Silbertässchen erwacht. Zehn Jahre polierten die Bürgermeisterin Teófila Martínez und Spaniens Zentralregierung, um den alten Glanz sichtbar zu machen. "Die Stadt wird sich wieder als internationales Tagungszentrum etablieren", hofft Martínez, "den demokratischen Geist von damals strahlt sie noch immer aus".
Ein Konsortium hat das Jubeljahr penibel vorbereitet. Ab sofort soll Schluss sein mit Abwanderung und Arbeitslosigkeit, denn Cádiz gehört zu den ärmsten Regionen des Landes. Die Stadt will ihr Schicksal wenden und hat eine lange Reihe von Events und Ausstellungen organisiert. Vorbild ist Sevilla, das auch im 20. Jahr der Weltausstellung noch gut vom Tourismus leben kann. Einen ähnlichen Effekt erhoffen sich die Bewohner von der Zweihundertjahrfeier in Cádiz.
Für Besucher ist ein zu großer Erfolg gar nicht wünschenswert: Denn während sich in Sevillas Altstadt die Touristengruppen auf die Füße treten, kann man 120 Kilometer südlich der andalusischen Hauptstadt völlig ungestört am städtischen Leben der Einheimischen teilhaben und dabei ein Kleinod entdecken.
Beim Spaziergang bemerkt man gleich: Cádiz hat alle Aufmerksamkeit verdient. Die Stadt ist ein Traum aus Licht und Meer. Sie liegt nur elf Meter über dem Meeresspiegel, ist handlich klein und gespickt mit Geschichten, die die Geschichte zweier Kontinente erzählen. Diese kann man nun kennenlernen.
La Pepa und wichtige Männer
Das Konsortium hat ein anschauliches Handbuch herausgegeben (auch auf Deutsch), mit dem sich die Besucher selbst zurechtfinden können. Der Stadtspaziergang ist in fünf kleinere Runden gegliedert und heißt "Ein Ausflug durch das Cádiz der La Pepa". Er bietet neben Infos zu wichtigen Männern und großen Häusern auch immer wieder Unterhaltsames zum Leben in der Stadt vor 200 Jahren und Spannendes zum Alltag unter Beschuss und Belagerung der Franzosen.
So hat sich im 18. und 19. Jahrhundert eine Kaffeehaus-Kultur entwickelt, die die Entstehung der Verfassung direkt beeinflusste. Das Café Apolo an der Plaza San Antonio wurde zum Beispiel "das kleine Parlament" genannt. Heute kann man dort zwischen holzgetäfelten Wänden einen Café cortado bestellen. Doch besucht wurden die Tertulias, wie man die stammtischartigen Treffen hier nennt, nicht nur von Abgeordneten, sondern auch von politischen Flüchtlingen und Kaufleuten, die das intellektuelle Leben der wohlhabenden Stadt bereicherten.
Den alten Wohlstand erkennt man in der Flaniermeile Calle Ancha, wo auch heute noch kleine, historische Fachgeschäfte auf Kundschaft warten. Und in der geschäftigen Calle San Francisco kann man nicht nur shoppen, sondern auch das Geheimnis der sogenannten Tortilla francesa, des französischen Eierkuchens, kennenlernen. Das einfache Omelett wurde während der französischen Belagerung als Ersatz für die nahrhaftere spanische Tortilla serviert: Die war nämlich aus Mangel an Kartoffeln und Zwiebeln praktisch unerschwinglich geworden. 60.000 Flüchtlinge lebten während des Unabhängigkeitskrieges in Cádiz, genauso viele Einwohner wie die Stadt zuvor schon hatte.
Der Silberblick der Matrosen
Wer sich endgültig in Cádiz verlieben will, sollte auf den Tavira-Turm im Stadtzentrum steigen und sich dort am Blick über Meer und Dächer erfreuen. Dort oben versteht man, warum die Stadt Silbertässchen heisst: Aus Lateinamerika kommende spanische Seeleute sollen sie so getauft haben. Ihre silbrig im Sonnenlicht glitzernden Dächer waren aus weiter Ferne sichtbar und sandten den Matrosen einen ersten Gruß. (Brigitte Kramer, Album, DER STANDARD, 13.10.2012)