STANDARD: Als Sie Ihr Amt antraten, wollten Sie vor allem ein Kämpfer sein für Europa, mehr Demokratie, ein starkes Parlament. Inzwischen gelten Sie als einer, der so deutlich wie kaum einer Klartext spricht zu sozialen Schieflagen, der beinahe linke Brandreden hält. Warum der Wandel?

Schulz: Die Wertigkeiten haben sich teilweise geändert. Aber die Frage der demokratischen Legitimation europäischen Handelns bleibt auf der Tagesordnung.

STANDARD: Wie sehen Sie das, dass die Arbeitslosigkeit bei den Jungen in Europa so hoch ist, man schon von einer „verlorenen Generation" spricht?

Schulz: Das ist ein Desaster. Wenn wir der reichste Kontinent der Erde sind, aber zusehen müssen, dass aus manchen unserer Mitgliedsländern die jungen Menschen auswandern müssen, weil sie für sich keine Perspektive mehr sehen, ist das eine Schande. Ich bringe immer das Beispiel dieser Leute, die ich in Spanien getroffen habe. Es ist die am besten ausgebildete Generation, die dieses Land je hatte, und die suchen Jobs in Lateinamerika. Das ist sehr bitter. Deshalb wäre es sehr angebracht, wenn wir schnellstens Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit treffen.

STANDARD: Welche zum Beispiel?

Schulz: Wir reden immer über Milliarden an Hilfen für Griechenland. Was mich am meisten beeindruckt hat während der letzten Monate, war ein Gespräch mit dem Präsidenten der griechisch-deutschen Handelskammer in Athen. Der Mann hat mir erklärt, sie hätten eine Liste von 200 Projekten für kleine und mittlere Unternehmen, die direkt Leute, junge Leute einstellen könnten. Es geht um Bereiche wie erneuerbare Energien, Tourismus, Ausbau von Fährhäfen, Erneuerung der Flotten, vor sich hintümpelnde Schulen, Kanalisation, Krankenhäuser, die gesamte Infrastruktur. Er sagte, wir hätten so viele Start-ups. Aber es gibt ein Problem: Sie bekommen keine Kredite.

STANDARD: Was kann Europa da leisten?

Schulz: Warum machen wir nicht ein Programm für Mikrokredite für mittlere und kleine Unternehmen?

STANDARD: Über die Regierung in Athen hinweg?

Schulz: Natürlich. Das könnten wir auch in Spanien machen, in Portugal. Ich glaube, wir sind diesbezüglich etwas fantasielos. Und wir sind auch zu langsam.

STANDARD: Da sind wir direkt bei der Demokratiefrage, die Sie angesprochen haben. Wo sind die Fortschritte?

Schulz: Ich habe gerade an der „4 plus 1"-Runde der europäischen Präsidenten teilgenommen.

STANDARD: Nur zur Klärung, das ist jene Vierer-Gruppe, bestehend aus dem ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker und den Präsidenten von EU-Kommission und Zentralbank, José Manuel Barroso und Mario Draghi, die im Auftrag der Regierungschefs langfristige Pläne für eine echte politische Union erarbeiten soll. Warum sind Sie da plötzlich dabei?

Schulz: Ich habe da so lange rumgejammert, bis die gesagt haben: Es gibt von den Staats- und Regierungschefs kein Mandat für den Parlamentspräsidenten, also nennen wir es 4 plus 1. Da ging es zentral um die Frage: Wer gibt eigentlich der EZB die Legitimität für ihr Handeln? Oder wer legitimiert das Handeln der Kommission oder auch der Mitgliedstaaten im speziellen Fall, wenn sie als europäisches Organ handeln, bei Bereichen, wo unmittelbar in die Souveränität der Mitglieder eingegriffen wird wie beispielsweise beim Haushalt?

STANDARD: Da gibt es eben viele Lücken, die der EU-Vertrag lässt, weil die Integration bisher nicht weit genug gegangen ist.

Schulz: Genau. Das heißt, die Legitimierung bleibt aufgrund der nicht vorhandenen Struktur der Gewaltenteilungsstruktur in der Diskussion. Für mich ist das das zentrale demokratiepolitische Thema. Aber die Krise verschärft sich seit geraumer Zeit. Es ist ganz klar so, dass wir zu langsam handeln. Wir laufen den Problemen hinterher. Das hat zu einer Verschärfung der Krise geführt, in einigen Staaten zu einer Verschärfung der Arbeitslosigkeit. In einigen Staaten zu einer Vertiefung der Rezession. 

STANDARD: Der IWF hat in Tokio diese Woche eindringlich davor gewarnt, dass Europa zu langsam ist. Aber bei den Staats- und Regierungschefs werden Entscheidungen seit drei Jahren vor allem hin und hergeschoben. Warum ist das so?

Schulz: Bei einigen von denen ist das so. Der Europäische Rat ist ein sehr heterogenes Gebilde, keineswegs einheitlich. Das ist ja das Problem. Der große Vorteil der Gemeinschaftsmethode war immer, dass große, kleine und mittlere Staaten sich gemeinsame Institutionen geben, in deren Rahmen sie ihre sehr unterschiedlichen Interessen in einem fairen Kompromiss ausgleichen. Und das war das große Erfolgsrezept Europas, weil es vor allem einen Effekt hat: Es wird etwas entschieden. Mit der im EU-Vertrag von Lissabon vorgesehenen Einführung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs als eigenes Organ ist das Einstimmigkeitsprinzip wieder eingeführt worden. Sie haben dort immer eine Regierung, die mit etwas nicht einverstanden ist.

STANDARD: Zuletzt beim EU-Finanzministerrat wurde die Einführung einer Finanztransaktionssteuer beschlossen, aber nur von elf Staaten. Sogar Gründerstaaten wie Luxemburg oder die Niederlande sind nicht dabei, ein trauriger Befund, oder? 

Schulz: Sie haben nicht nur eigene Interessen, sondern auch ideologische. Ein solches Verhalten ist der Beweis dafür, dass die Renationalisierung gefährlich ist. Was Sie beschreiben, trifft zu, es ist immer national geprägt, aus einem sehr spezifischen nationalen Rahmen heraus. Vorrang für die Nationalstaaten bedeutet in Wahrheit die Verlangsamung der europäischen Lösungen.

STANDARD: Wie kommt man da heraus?

Schulz: Durch die Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen. Wir brauchen am Ende eine europäische Regierung, die für die Kompetenzen zuständig ist, die man an die Union übertragen hat. Und wir brauchen ein Europäisches Parlament, das diese Regierung einsetzt und auch absetzt. Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten in Österreich die Landeshauptleute, die alle drei Monate in Wien zusammenkommen und sich untereinander einigen, was der Bundeskanzler tun darf und was nicht.

STANDARD: Das findet auch statt, so funktioniert Österreich.

Schulz: Das glaube ich nicht.

STANDARD: sagen böse Zungen. Das heißt Landeshauptleutekonferenz, die in der Verfassung gar nicht vorgesehen ist. Es ist ein informelles Gremium, das die Regierung sehr stark beeinflusst, realpolitisch.

Schulz: Dann ist es vielleicht anders als in Deutschland. Wir haben ja auch die Ministerpräsidenten, aber es ist am Ende der Bundeskanzler in Deutschland, der die starke Figur ist. Wir haben 16 Ministerpräsidenten, stellen Sie sich vor, die kämen alle paar Monate in Berlin zusammen und müssten einstimmig entscheiden. Da müsste man ständig einen Kompromiss zwischen Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen und Horst Seehofer aus Bayern hinbekommen. Also, deshalb haben wir in Deutschland eine starke Bundeskanzlerin, einen starken Bundestag, der für die von den Ländern auf den Bund übertragenen Kompetenzen handeln kann. Und das brauchen wir am Ende auch in Europa.

STANDARD: Aber dafür brauchen wir doch letztlich eine Europäische Verfassung, einen Konvent, wenn es einen starken, parlamentarisch kontrollierten Präsidenten geben soll.

Schulz: Ja, es ist ganz ohne Zweifel so. Aber wo wir am meisten die Vertiefung notwendig hätten, dort ist die Bevölkerung am wenigsten bereit, es zu akzeptieren. Das ist eines der ganz großen Probleme Europas, und da müssen wir rauskommen.

STANDARD: Wie kann man die Bevölkerung davon überzeugen?

Schulz: Indem wir Sätze sein lassen wie jenen, dass Europa ohne Alternative sei. Natürlich hat Europa eine Alternative. Man muss mit den Menschen diskutieren, dass Europa in der heutigen Form große Probleme hat, und dabei die Frage offen auf den Tisch legen: Was wäre eigentlich die Alternative?

STANDARD: Wie sähe die denn aus?

Schulz: Nehmen Sie Österreich als Beispiel. Es wäre nicht Teil einer starken Wirtschafts- und Währungsunion, sondern es müsste allein klarkommen.

STANDARD: Die Euroskeptiker fänden das gut. Sagen die führenden Politiker zu wenig deutlich, in welch tiefer Existenzkrise der Kontinent eigentlich steht, was da eigentlich auf dem Spiel steht - Wohlstand und Demokratie? Beispiel Milliardenhilfe für Griechenland, Irland, Portugal.
Schulz: Natürlich ist es so. Ich habe mir als „ceterum censeo" schon angeeignet, den nationalen Politikern zu empfehlen, was ich auch selber versuche zu tun, nämlich unsere Handlungen und Entscheidungen so zu erläutern, dass man sie nicht als alternativlos bezeichnet, das stimmt ja gar nicht. Die, die Nein sagen zu Europa, die haben einen Vorteil, ob das so ein Stronach ist oder Strache, die sagen nur Nein. Sie sind nie gezwungen zu sagen, was sie selber anders machen würden, während wir ständig in der Legitimationspflicht sind. Deshalb könnte die Gegenstrategie sein, dass wir von uns aus auch diese Alternativen aufzeigen. Und dann können die Leute wählen.

STANDARD: Was sagen Sie denn den Österreichern, was ist Ihre Botschaft, um die EU-Skeptiker davon zu überzeugen, was der Vorteil an der Union ist?

Schulz: Erstens: Ich habe nicht den Eindruck, dass Österreich seit dem EU-Beitritt 1995 ärmer geworden ist, sondern reicher. Zweitens: Österreich braucht den Zugang zum deutschen Markt, dieser ist nur stark, wenn die EU stark ist. Also muss Österreich auch ein Interesse an einer starken EU haben. Drittens: Österreichs enormes Engagement nach der Osterweiterung hat dem Land Vorteile gebracht. Wir sollten darauf achten, dass es nicht in Risiken gerät, wenn der Osten Europas zusammenbricht. Auch das geht nur über eine starke EU.

STANDARD: Das waren drei starke, ganz wirtschaftliche Argumente. Dennoch haben sehr viele der Bürger das Gefühl, es werde über sie hinweg entschieden, als hätten sie auf Entscheidungen in Europa keinen Einfluss.

Schulz: Das stimmt ja nicht. Der Bundeskanzler ist ein Teil des Europäischen Rates, der Kommissar aus Österreich betreut ein wichtiges Ressort, die Regionalpolitik, eines der wichtigsten überhaupt. Und die österreichischen Abgeordneten im Europaparlament zählen viel, es gibt einen Fraktionsvorsitzenden aus Österreich, Hannes Swoboda, und einen Vizepräsidenten, Othmar Karas. Also wenn es ein mittleres Land in der EU gibt, das hier verdammt gut vertreten ist, dann ist das Österreich. Dass die Österreicher das selbst nicht wahrnehmen wollen, ist nicht das Problem Brüssels, das ist in Wien beheimatet.

STANDARD: Aber die breite EU-Skepsis ist doch auch ein Problem Brüssels, oder der EU, wenn Sie so wollen.

Schulz: Ja, Österreich hat, wenn ich den Umfragen glauben kann, eine große Mehrheit von Menschen, die im Grundsatz für die EU sind. Aber auch eine radikale Minderheit gegen die EU, die wahrscheinlich radikaler ist als in jedem anderen Land. Meine Empfehlung an die Europapolitiker ist, das zu tun, was der Bundeskanzler tut: nicht hinter diesen 30 Prozent herzulaufen, um die sich Stronach, Strache und wer auch immer streiten, sondern zu sagen: Ich gebe den pragmatischen Österreichern, die der Überzeugung sind, dass Österreichs Zukunft in der Gemeinschaft liegt, Stimme und Gehör.

STANDARD: Inwiefern könnten die kommenden Wahlkämpfe, in Österreich im Herbst 2013 und dann bei den EU-Wahlen im Frühjahr 2014, eine Europäisierung bringen?

Schulz: Die Tatsache, dass wir demnächst in allen möglichen Ländern Europas, in den 27 Staaten, Wahlkämpfe haben werden von Leuten, die gar nicht aus dem Land kommen, sondern für eine politische Linie stehen, die sich in Europa durchsetzen soll, das wird ein Hingucker.

STANDARD: Spielen Sie an auf gemeinsame Spitzenkandidaten der großen Parteifamilien, Sozialdemokraten, Konservative, Liberale, Grüne? Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

Schulz: Ja, nehmen wir einmal an, Sie haben einen spanischen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten und die SPÖ unterstützt plötzlich im Wahlkampf einen Spanier oder die ÖVP einen Franzosen. Dann werden die Leute fragen: Warum denn das? Dann müssen die österreichischen Parteien begründen, warum sie für einen transnationalen Kandidaten eintreten, der auch die österreichischen Interessen vertritt.

STANDARD: Können Sie sich vorstellen, dass diese Spitzenkandidaten sich einer Fernsehdiskussion stellen, die gleichzeitig in allen EU-Ländern übertragen wird, eine Art Eurovision Policy Contest? Eine europaweite Elefantenrunde live zur besten Fernsehzeit? 

Schulz: Ja, klar. Ich bin ganz sicher, dass so etwas kommen wird. Die großen Parteienfamilien werden alle solche Kandidaten aufstellen. Dieser Wahlkampf 2014 wird so sein, wie er in föderalen Staaten immer ist. Die Kandidaten reisen durch die unterschiedlichsten Länder und Regionen. Nehmen Sie den US-Wahlkampf. Dort gibt es den Vorteil einer gemeinsamen Sprache. Aber wir haben auch die unterschiedlichsten Bundesstaaten, mit den unterschiedlichsten Strukturen, übrigens auch mit verschieden starken Wahlmännergremien. Ich glaube, dass wir eine solche Situation erleben werden. In den USA tritt ein Kandidat in New York anders auf als in Texas. Auf Europa umgelegt: Die Kandidaten werden sich in allen Ländern mit der Unterstützung der dortigen regionalen Partei präsentieren müssen. Das wird ein Überraschungseffekt sein. Der steigert das Interesse. Aber es wird eine gesamteuropäische Debatte daraus entstehen.

STANDARD: Nun gibt es erste Bekenntnisse, dass die stärkste Partei dann mit ihrem Spitzenkandidaten auch den künftigen Kommissionspräsidenten stellt. Das hätte den Vorteil, dass er dann natürlich viel stärker demokratisch legitimiert ist. Da gibt es ja von EU-Skeptikern oft Kritik. Würden die Staats- und Regierungschefs, die das Nominierungsrecht haben, das akzeptieren? Gibt es da bereits Vorgespräche?

Schulz: Das werden sie wohl müssen. Im EU-Vertrag ist das eindeutig. Der Rat schlägt mit qualifizierter Mehrheit nach einer Abstimmung dem Parlament einen Kandidaten oder eine Kandidatin vor unter Berücksichtigung der Ergebnisse der vorausgegangenen Europawahlen. Das heißt im Klartext, der Präsident des Rates konsultiert das Parlament. Und der- oder diejenige, der/die eine Mehrheit hinter sich vereinigen kann, wird vorgeschlagen. Das bedeutet auch, es muss nicht zwingend der Kommissionspräsident werden, der an der Spitze der stärksten Fraktion steht, sondern der, der eine Mehrheit im Parlament findet.

STANDARD: Das heißt, man kommt schon bei der Kandidatenfindung nicht am EU-Parlament vorbei?

Schulz: Der nächste Kommissionspräsident kommt aus dem Parlament, da bin ich ganz sicher.

STANDARD: Dazu aktuell eine kurze Frage zur Nominierung des vakanten Postens im Direktorium der Europäischen Zentralbank. Die Regierungschefs haben den Luxemburger Yves Mersch nominiert, aber der zuständige Ausschuss im Parlament weigert sich, ihn anzuhören, weil es keinen weiblichen Kandidaten gibt. Da gab es schwere Vorwürfe von den Finanzministern, weil das Parlament das Anhörungsrecht missbrauche, um das zu verzögern, obwohl es kein Mitentscheidungsrecht besitze. Wie sehen Sie das?

Schulz: Die Kritik der Finanzminister interessiert mich herzlich wenig. Das Parlament hat im Mai den Eurogruppenchef Juncker darauf hingewiesen, dass es lieber eine Frau als Kandidatin hätte. Ich habe mit Jean-Claude Juncker darüber lange gesprochen. Er hat das auch eingesehen. Der Ausschuss hat beschlossen, dass er die Anhörung durchführen will, dass er dabei das Verfahren kritisieren wird, und dann wird man irgendwann im Oktober abstimmen. Ich habe auf Bitte der Fraktionsvorsitzenden mit Van Rompuy darüber gesprochen, dass wir beim EU-Gipfel nächste Woche in unseren Reden die Staats- und Regierungschefs bitten werden, die Geschlechterfrage ernst zu nehmen in Zukunft.

STANDARD: Wird Mersch bestätigt?

Schulz: Ich glaube, dass der Ausschuss Folgendes machen wird, das hat mir die Vorsitzende Bowles mitgeteilt. Sie werden Mersch anhören und dabei strikt darauf achten, dass die Bewertung der Kompetenz getrennt wird von der Genderfrage.

STANDARD: Wie kann man in der Eurokrise Tempo zur Problemlösung aufnehmen? Man hat langsam schon den Eindruck, dass den Finanzministern dieses Problem bewusster wird.

Schulz: Also, wenn ich auf die letzten vier Jahre schaue, und den Europäischen Rat, dann kann man nicht besonders optimistisch sein. Wir hören auch ständig von den Finanzministern, und da ist auch diese komische Frau aus Österreich dabei, immer irgendwelche Storys, dass das EU-Parlament zu langsam wäre. Ich könnte Ihnen eine lange Liste des Parlaments vorlegen von Dingen, die alle schon entschieden sind, ob Six-Pack, oder Two-Pack oder was weiß ich welches Pack an Gesetzen, aber es scheitert alles am Rat, weil die Mitgliedsländer sich nie einig sind. Die Gemeinschaftsinstitution, die Kommission, handelt vielleicht nicht immer klug, aber sie handelt. Wir im Parlament, wir entscheiden vielleicht nicht immer am Schlauesten, aber wir handeln. Die einzigen die sich nie einigen können, sind zum Beispiel die Finanzminister. Ein Beispiel, ich war gerade in Irland. Da haben 27 Regierungschefs, dass die Iren ihr Haushaltsdefizit trennen dürfen vom Bankenbailout, der Bankenhilfe, die sie gemacht haben, weil das eine atypische Sache ist, die mit dem normalen Haushalt gar nichts zu tun hat. Drei Wochen später gehen drei Finanzminister hin und sagen, aber Moment mal. Ich habe Juncker gefragt, wie das eigentlich sein kann, dass Finanzminister nicht beschließen, was ihre Regierungschefs entschieden haben.

STANDARD: In dem Fall war das Ihr Landsmann Wolfgang Schäuble aus Deutschland.

Schulz: Ja, mit seinen zwei Vasallen, dem Niederländer und Frau Urpilainen, es sind immer die gleichen.

STANDARD: Wie kann das sein? Wie kommt man raus, braucht es einen neuen Wiener Kongress?

Schulz: Um Gottes Willen? Die Europäische Union, und das ist jetzt eine zentrale Botschaft an die Österreicher, die EU hat nicht Österreich erschaffen, es ist nicht die Union, die Deutschland gebildet hat oder Frankreich gegründet. Es ist umgekehrt, es sind die Mitgliedstaaten, die die EU bilden. Die Union kann nur so stark sein, wie die Staaten sie stark sein lassen wollen. Zerstrittene Mitgliedstaaten schwächen die Union. Die Schuld für eine schwache Union liegt nicht in Brüssel, sie liegt in nationalen Hauptstädten. Die Schuld an einer uneffektiven Union, für Schlamperei, für Bürokratie, die mag vielleicht hier in Brüssel liegen. Aber die Schwäche in der Handlungsebene wird verursacht durch die Umkehrung des Gemeinschaftsgeistes. Dieses Prinzip, wenn jeder nur an sich selbst denkt, ist am Ende an alle gedacht, dieses Prinzip ist falsch. Es gibt Notwendigkeiten, wo das Gemeinschaftsinteresse höherrangig bewertet werden muss weil der Erfolg der Gemeinschaft am Ende der Erfolg aller, oder das Scheitern der Gemeinschaft zum Problem für alle wird. Das müssen die Leute stärker erkennen. All diese Minister, die handeln doch meist nur für den heimischen Markt.

STANDARD: Dennoch ist es wahr, dass die EU-Skeptiker in Österreich immer mehr an Zulauf gewinnen.

Schulz: Ja, immer mehr nicht unbedingt. Es ist seit Jahren immer das gleiche Lager, deshalb darf man nicht immer gleich in Sack und Asche gehen als Europäer. Herr Stronach grast mächtig auf der Weide von Herrn Strache. Ich glaube, dass man eine überzeugende Mehrheit von Menschen in Österreich dafür gewinnen kann, gerade in der weltweiten Konkurrenz in der wir stehen, in der auch unser Gesellschaftsmodell Konkurrenz bekommt, davon überzeugen kann, dass wir nur in einer starken ökonomischen und politischen Gemeinschaft unser Gesellschaftsmodell verteidigen können.

STANDARD: Das klingt halt wieder sehr abstrakt.

Schulz: Sehen wir das praktisch. Natürlich wird in China billiger produziert als bei uns, aber warum? Weil kein einziges unserer sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte, unserer Werte, verteidigt wird. Jetzt gibt es natürlich Leute, die sagen uns, ihr müsst das importieren. Das sage ich, nein, eine starke Gemeinschaft kann verhindern, dass wir das importieren müssen. Unsere werteorientierte Demokratie, die eben nicht nur eine mehrwerteorientierte Demokratie ist, die kann und muss man verteidigen. Nun gibt es Leute, die betreiben ihr Geschäft im Neinsagen. Wir können nicht erwarten, dass Herr Stronach, Herr Strache sagen, passt mal auf, das ist die EU, die wollen wir nicht, und das ist unser Angebot, so machen wir das. Aber die zielen ja nicht auf eine intellektuelle Kampagne, die setzen auf die Unzufriedenheit der Leute. Diesen Leuten muss man sagen, wir haben ein Projekt, das ist so und so, die anderen haben eine Alternative, mit Österreich allein, mit Schilling, in der Konkurrenz jeder gegen jeden. Da kann man nur sagen, das macht mal. Wenn Stronach sagt, er will wieder den Schilling, dann ist das Falschmünzerei. Er gehört nämlich genau zu den Leuten die wissen, was das bedeutet.

STANDARD: Wohin geht die Union, wird es einen Schub der Integration geben in den kommenden Jahren, oder gehen die nationalen Auflösungserscheinungen weiter?

Schulz: Wir werden früher oder später vor die Frage gestellt werden, wie man Europa reformiert. Die Idee, die hinter Europa steht, dass Staaten und Völker über Grenzen hinweg in gemeinsamen Institutionen zusammenzuarbeiten um die großen Herausforderungen dieser Zeit zu meistern, da sind die meisten Menschen dafür. Auch viele von denen, die auf den ersten Blick sagen, „hau mir doch ab mit der EU!", die sind beim zweiten Nachdenken für eine solche Lösung. Diese Idee ist unbestritten, aber die Form, in der sie gemanagt wird, die ist schlecht. Die Idee ist unbestritten, aber aus der Idee ist die Verwaltung geworden. Und jetzt glauben die Leute, die Verwaltung wär die Idee. Geben wir die Idee auf, oder ändern wir die Verwaltung. Da sind wir an dem Punkt, den sie eingangs genannt haben: Natürlich wird es eine umfassende Reform der Union geben müssen. Die Kriegen wir aber nur durch, wenn wir offen sagen, dass es sie geben muss, und alle, die daran glauben, sich mobilisieren müssen. Wenn das nicht so ist, dann wird sie abgelehnt werden, diese Reform.

STANDARD: Und wenn man keine Schönfärberei betreibt.

Schulz: Klar, da gehöre ich ja eh nicht dazu. Ich sage ja, Europa ist nicht in einem guten Zustand, man muss es nicht schönreden. Aber es hat zwei Vorteile. Es hat erstens eine ungeheuer lange Friedensperiode gebracht. Und es ist zweitens in der weltweiten Konkurrenz aus meiner Sicht die einzige Garantie, dass Ihre und meine Enkelkinder noch ungefähr so gut leben können wie wir heute. Die einzelnen europäischen Länder, auch Deutschland, sind nicht mehr in der Lage allein und auf Dauer den aufstrebenden Mächten dieser Erde Paroli bieten zu können. Diese Mächte haben aber weder umweltpolitisch, noch sozialpolitisch, noch was die Demokratiestabilisierung angeht die gleichen Perspektiven wie wir. (Thomas Mayer, DER STANDARD/Langfassung, 12.10.2012)