Mit zehn bin ich ein vollwertiger "mulac", ein Maulesel. So nennen die Dalmatinci halbwüchsige Burschen, weil sie, wie junge Maulesel, allerlei unbändigbaren Unfug treiben. Ich bin aber unter den mulci eine Art Nerd, lange bevor es das Wort bei uns gibt. Ich liege stundenlang unter der großen Pinie in Sutivan und genieße eine spezifische Freiheit des jugoslawischen Kommunismus: Ich lese Däniken auf Kroatisch und Vandenberg auf Serbisch.
Sprengt endlich die Area 51!
Es ist nicht unbedingt Literatur, deren Kenntnis stolz macht oder bildet. Sie erregt vielmehr. Und zwar eine Art Indiana-Jones-Nerv, der den Entdecker der verborgenen Geheimnisse in uns weckt. Unter den Schulkindern ist das immer der Nerd, dem es nicht genügt aufzuzeigen und der deswegen noch winkt, zappelt und mit den Fingern schnalzt. Däniken ist wahrscheinlich so ein Kind. Und mit zehn will ich Däniken sein.
Was die Däniken'sche "Theorie" von antiken Besuchern aus dem All zur Verschwörungstheorie macht, ist die Behauptung, gewisse Regierungen wüssten eh alles, wollen es uns aber nicht sagen. Das ärgert den kleinen Indiana Däniken in mir über alle Maßen. Und auch mein Großvater schimpft über die Amerikaner, die Napalm auf Kinder in Vietnam werfen. Also muss es wahr sein! Das Zentrum der Verschwörung und Lager für jeden erdenklichen Weltraumschrott der Außerirdischen ist die Area 51.
Inzwischen ist jedoch zu all dem versteckten antiken und modernen Alien-Zeug noch einiges dazugekommen: tote und lebendige UFO-Nauten, die echte Titanic, die Bundeslade, der Stein der Weisen, der Wassermotor, die kalte Fusion, die Maschine, die das Bermuda-Dreieck erzeugt, die Leichen der 9/11-Passagiere, wirklich guter Kaffee und gestrandete Zeitreisende aus der Zukunft und Vergangenheit.
Ich hab' die Area 51 satt! Man sollte sie zubetonieren und auf dieser großen Betonfläche mit riesigen, aus dem Weltall lesbaren Buchstaben folgende Botschaft anbringen: "Das ist ein Irrenhaus! Haut schnell wieder ab!"
Twilight Zone
Durch "Philipp Vandenberg" und weil ich auf einer Insel bin, komme ich in die fabelhafte Welt des geheimnisvollen, Menschen und Maschinen verschluckenden Bermuda-Dreiecks. Das ist eine Art Alternativliteratur zu Däniken, weil anfangs noch keine Außerirdischen eine Rolle spielen. Sondern rätselhafte, noch nicht erforschte Naturphänomene mit Gänsehautpotenzial. Wie mein Allzeitfavorit, die "Raum-Zeit-Verwerfung". Einfach super!
Die Ironie liegt darin, dass die Erkenntnisse der Quantenphysik so ein Phänomen sogar vorsehen. Doch dann, etwas später in den 70ern, wimmelt es auch im Bermuda-Dreieck von Außerirdischen. Und "die aus der Area 51" - wie kann es anders sein - wissen über alles Bescheid! Das ist der Zeitpunkt, zu dem ich beginne, mich zu fragen, ob Däniken, Vandenberg und die vielen anderen, die im Laufe der Zeit dazukommen, nicht einfach nur gescheiterte Schriftsteller sind, die ihr Talent nutzen, um selbst erfundene moderne Märchen gut zu verkaufen. Und will fortan gescheiterter, gut verdienender Schriftsteller sein. Das ist mir leider nicht gelungen. Dan Brown schon.
Insel der Verschwörer
Die spezifische Freiheit des jugoslawischen Kommunismus aus der Einleitung ist, dass westliche Filme, Bücher und Comics, die hinter dem Eisernen Vorhang nicht erhältlich sind, hier quasi in staatlichem Auftrag unter die Leute gebracht werden. Im Fall der "Däniken-Literatur" als Belletristik. Die jugoslawischen Zensoren sehen in purem Humbug keine Gefahr für die Volksmacht, die Integrität Jugoslawiens und das Wohlergehen der Arbeiterklasse.
Gleichzeitig betreibt der jugoslawische Geheimdienst UDBA eine kleine, steinige Insel, auf der alle Verschwörer gegen die Volksmacht, die Integrität Jugoslawiens und das Wohlergehen der Arbeiterklasse landen. Doch zusätzlich zu echten und vermeintlichen Volksfeinden auf Goli Otok, der Nackten Insel, sitzt da auch so manches Opfer einer echten Verschwörung. Das sind jene Unglücklichen, die nach "Umstrukturierungen" im Parteikader dem Ausgleich alter privater Rechnungen zum Opfer fallen. Oder weil Hof, Kühe und Frau einem Funktionär gefallen.
Panzer-Papa, Juden, serbische Gene und Chinesen
Es ist mein erster echt österreichischer Freund aus Kindertagen, der mich auf die Spur der weltweiten Verschwörung des internationalen Judentums bringt, der für mich bis dahin größten Verschwörung von allen. Das Buch dazu hat er von seinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg im Auftrag von Adolf Hitler einen Panzer durch Russland fährt. Es heißt "Die Protokolle der Weisen von Zion". Und es ist irgendwie spannend. Meine Lieblingsszene spielt auf einem Friedhof, wie in alten Dracula-Filmen mit Christopher Lee. Beides ist völliger Humbug, aber die Opfer von Dracula bluten nur Filmblut. Die Juden echtes. Blöd nur, dass noch immer viele Menschen die "Protokolle" ernst nehmen.
Noch 2010 berichten mir eine Ärztin und eine bekannte Dramaturgin, die Serben hätten ein Gen für Muslimozid und eines für Infantizid. Hm. Ein serbischer Freund fürchtet die Überfremdung von Neu-Belgrad durch Chinesen und sagt: "Erst Belgrad, dann Serbien!" Hmpf. Ein kroatischer Freund meint, "die Schwarzen" seien ein wenig - nicht viel, aber doch - dümmer als "die Weißen". Ohmeingott! Und all das, so meine Gesprächspartner, werde von Verschwörern unter der Decke gehalten. Hm? Wenn ich diesen Leuten mehr zuhöre, würde ich irgendwann schreiend davonlaufen oder doch noch wie Dan Brown sein.
Vernunft siegt immer!
So höre ich jedem zu, der mir seine Verschwörungstheorie vortragen will. Inzwischen habe ich ein Archiv und hoffe, es einmal literarisch zu verwerten. Hier einige meiner Favourites: Bielefeld gibt's gar nicht, Hitler war Moslem, Tito wird mit einem Russen ausgetauscht, der echte hat sechs Finger, Hitler war Jude, chemische Zusätze sind in Jet-Kondensstreifen, die Titanic ist in Wahrheit die Brittanic und die Amerikaner landen schon 1908 mit einem Dampf-Raumschiff auf dem Mond.
Und, last not least: Habt ihr anderen Kerle auch das unbestimmte Gefühl, irgendwie wüssten unsere Frauen und Freundinnen zusammen mit allen anderen Frauen irgendwas, was sie uns Kerlen die ganze Zeit bewusst vorenthalten, um uns besser zu "managen"? Wenn ja, dann sendet mir ein Mail! Aber lasst euch bloß nicht erwischen ... (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 12.10.2012)