Der jüngste österreichische Ernährungsbericht vom September 2012 schlägt wieder einmal Alarm. Fast jeder zweite Österreicher ist zu dick, und es werden immer mehr. In den übrigen europäischen Staaten sieht es nicht viel besser aus. Seit Jahren erklärt die OECD Fettleibigkeit zur Epidemie, Aktionspläne dagegen blieben bisher wirkungslos (siehe auch www.oecd.org, Aktion Fit for Fat).

Unwissenheit ist nicht der Grund

Der nahende weihnachtliche Fressmarathon wird sich durch Warnungen der Gesundheitsexperten nicht stoppen lassen. Zu viel Fett und Zucker, zu wenig Obst, Gemüse und Bewegung machen dick. Als ob wir das nicht wüssten. Diese nervenden Tatsachen kann keiner mehr hören, zumal er/sie immer weniger gegen die überflüssigen Kilos tun kann.

Kampagnen und Aufrufe sind seit Jahren wirkungslos, ebenso wie meterlange Regale von Ernährungsratgebern. Alarmierende Botschaften über Herzinfarkt und Schlaganfall in jungen Jahren verhallen in den Ohren der Schwergewichte und derer, die es werden sollen.

Kommt irgendwann jemand auf die Idee, dass ständiges Zu-viel-Essen andere Ursachen haben könnte als Unwissenheit oder fehlende Disziplin? Dass das Problem mit Vernunft nicht zu beherrschen ist, man es somit anders angehen muss?

Wir hören nicht mehr, wann der Körper Stopp sagt ...

Der menschliche Körper ist sein bester Ernährungsberater, ausgestattet mit einem feinen Sensorium für die Stoffe und Vitamine, die er gerade braucht. Auch die Menge wird durch die Funktion "Appetit" genau festgelegt. Wenn der Körper genug hat, sagt er "Stopp". Warum haben wir gelernt, diesen sensiblen Mechanismus zu betäuben? An seine Stelle tritt der Verstand mit Aktionsplänen, Zahlen und Geboten.

Als eine die Spezies sichernde Maßnahme hat die Natur das Essen mit Lustgefühl ausgestattet. Eine gute Mahlzeit beruhigt und befriedigt das Gemüt. Auch bei anderen befriedigenden Erlebnissen fließen die positiven Botenstoffe im Gehirn. Diese sind für unser Überleben notwendig, ihr Mangel auf Dauer lebensbedrohend.

Frustessen als Kompensation

In den Industriestaaten hat das Essen längst mehr als die Funktion der Nahrungsaufnahme übernommen. Es ist zur idealen Projektionsfläche für Hunger nach Erfüllung auf anderen Gebieten geworden. Im Berufsleben, im Zusammensein mit anderen, im Sexualleben.

Wer sich in seinem beruflichen und persönlichen Umfeld nicht als die Persönlichkeit ausleben kann, die er/sie ist, gerät auf Dauer in einen die Gesundheit bedrohenden Mangel. Dieser äußert sich zunächst als gähnende Leere des Magens. Wenn andere Lusterlebnisse nicht möglich sind, ist Essen die logische Folge.

Stetiges Wachsen als Gesellschaftsmaxime

Dass sozial Schwache häufiger übergewichtig sind, wundert nicht. Ihren beruflichen Alltag können sie selten selbstbestimmt und erfüllend gestalten. Für Kompensation in der Freizeit fehlt das Geld, also bleibt Futtern als Lustquelle. Aber auch in den wohlhabenden Schichten der Industriegesellschaft ist es zunehmend schwierig, das Leben befriedigend und lustvoll zu gestalten. Maßhalten ist nicht nur ein den Finanzmärkten fremder Begriff. Essen, wenn ich Hunger habe, und so viel, bis ich angenehm satt bin? Unmöglich, für Wirtschaft und Konjunktur ein No-go, trotz der Lust, die mit diesem Maßhalten verbunden ist. Stattdessen lautet die Devise "Viel, groß, wachsend".

Der Body-Mass-Index ist die absurde Regel dieser allgemeinen Lust- und Maßlosigkeit. Über einem Wert von 25 ist man übergewichtig. Als ob das die Vielesser bremsen würde, deren Anzahl beängstigend steigt.

Die Werbung hat den Mangel des Menschen an lustvollem Erleben längst erkannt. Mit "Das Leben genießen" verdient sie an Süßigkeiten Millionen. Auch die Gesundheitsminister sollten nachdenken und endlich neue Strategien anbieten.

Wenige Fragen des Arztes an den schwergewichtigen Patienten würden genügen: Womit verbringen Sie die meiste Zeit des Tages? Ist es das, was Sie wirklich erfüllt? Mit wem verbringen Sie die meisten Abende, Nächte? Mit der/dem, deren/dessen Gegenwart Sie mit Freude erfüllt? Was tun Sie, wenn Sie nicht arbeiten, einkaufen, fernsehen oder sonst wie konsumieren?

Gewicht im Ungleichgewicht

Die Fragen klingen simpel, die Antworten sind es keineswegs. Sie eröffnen ein ganzes Universum von Unlust, gegen die Appelle an Vernunft und Disziplin machtlos sind. Sinnvoll wäre echtes Befassen mit der Lebenssituation des Patienten jenseits seiner Essgewohnheiten ... Was stört das Gleich-Gewicht?

Zumindest einiges davon zu ändern und das Leben lustvoller zu gestalten würde kein Geld kosten, aber viel bringen. Unverständlich, warum unsere Politiker diese Fragen nicht stellen. Fürchten sie, dass als Diagnose nicht Übergewicht, sondern eine Epidemie des Lebensüberdrusses herauskommen würde? Auch in diesem Fall ist es höchste Zeit zu handeln. (Anja Krystyn, Leserkommentar, derStandard.at, 17.10.2012)