Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal leitet gemeinsam mit Frederike Range und Zsófia Virányi das Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn.

Foto: Wolf Science Center/Daniel Zupanc

Die Tiere sind Partner bei der Forschung.

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Seine jahrelange Erfahrung und Forschung mit Wölfen beschreibt der Wissenschafter nun in einem Buch.

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Wolf und Hund im direkten Vergleich. Kein anderes Haustier zeigt heute eine derartige Variationsbreite an Größe und Form.

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Wollen wir mehr über den Menschen erfahren, müssen wir uns mit Wölfen beschäftigen, plädiert der Wissenschafter.

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Die Gebrüder Grimm machten ihn zur hinterlistigen Märchenfigur. Für die Chinesen galt er als Symbol für Gier. Die Ureinwohner in Nordamerika, die von der Jagd lebten, sahen in ihm einen überlegenen Konkurrenten. Hermann Hesse nutzt ihn in seinem Roman Steppenwolf als Metapher für die triebgesteuerte Seite seines Protagonisten. Sein direkter Nachfahre hat schließlich eine steile Karriere zum "besten Freund des Menschen" hingelegt.

Es gibt nur wenige Tiere, zu denen der Mensch eine derart ambivalente Beziehung pflegt und auf die er soviel projiziert. Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal unternimmt mit seinem neuen Buch "Wolf – Hund – Mensch. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung" auf 200 Seiten eine Annäherung an unser tierisches Alter Ego.

Moderner Mensch entstand mit Tieren

Kotrschal schreibt wissenschaftlich fundiert, aber auch kurzweilig über Stammesgeschichte, Leben und Verhalten der Wölfe – und setzt das Tier immer wieder in Beziehung zum Menschen. Dabei kann der Autor auf seine persönlichen Erfahrungen mit den Tieren zurückgreifen. Denn die Begegnung mit Wölfen ist für ihn Alltag: Seit vier Jahren leitet der "Wissenschafter des Jahres 2010" mit seinen Kolleginnen Frederike Range und Zsófia Virányi das Wolf Science Center im niederösterreichischen Ernstbrunn.

Die Forschung mit Wölfen gebe auch Aufschluss über die Geschichte der Menschen. Alle Kulturen des Homo sapiens seien im Beisein dieser Tiere entstanden, sagt Kotrschal: "Wir wurden in Gemeinschaft mit Tieren, besonders aber mit Wölfen und Hunden, zum modernen Menschen." Und das sei zu berücksichtigen, wenn wir uns selbst besser verstehen wollen.

Der Wolf gehört zur Gattung Canis und scheint von fuchsähnlichen Vorfahren abzustammen, die vor rund 3,5 Millionen Jahren lebten. Aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelten sich wahrscheinlich mehrere wolfsähnliche Arten. Dem heutigen Wolf bereits sehr ähnliche Tiere tauchten dann im Pleistozän, vor etwa einer Million Jahren, in Eurasien auf. Laut aktuellem Stand der Wissenschaft lebt der Mensch seit 60.000 Jahren mit Wölfen und ihrer sozial verträglicheren Form, den Hunden, zusammen.

Geistige Sippschaft

Der Wolf sei uns in seiner Lebensweise sehr ähnlich. Der Verhaltensforscher spricht sogar von einer "geistige Sippschaft" zwischen Mensch und Wolf. Beide können sich schnell anpassen und sind kooperativ. Daher haben sie es geschafft, nahezu alle Lebensräume der nördlichen Hemisphäre zu erobern. Innerhalb ihres Clans sind beide Arten freundlich, der Nachwuchs wird sogar liebevoll gemeinsam aufgezogen.

Aber wenn es um die Bekämpfung gruppenfremder Artgenossen geht, können beide grausam sein. Grenzen eines Territoriums werden bis aufs Blut verteidigt. "Wir sind zwar nicht bluts-, wohl aber wesensverwandt", schreibt Kotrschal. Die Gruppe agiere beim Verfolgen gemeinsamer Ziele geschlossen als eine Art "Superorganismus". Das beruhe jedoch nicht allein auf Instinkten, sondern sei Ergebnis der geistigen Leistungen der Einzelnen.

In kooperativen Gruppen entstehen schnell Eigeninteressen, besonders wenn es um die Reproduktion geht. Daher entstehen Rangordnungen, die meist weniger auf Muskelkraft, als auf Motivation, Persönlichkeit und sozialer Kompetenz beruhen. Der britische Psychologe und Primatenforscher Robin Dunbar spricht von der "Social-Brain-Hypothese". Demnach entwickeln sich größere, leistungsfähigere Gehirne bei Säugetieren, die mit anderen Individuen in Beziehung leben. Denn das fordere geistig heraus. Teamgeist siegt also – auch in der Evolution.

Zukunft des Wolfs

Mit Wolf und Mensch seien zwei Arten aufeinander getroffen, die aufgrund ihrer geistigen Leistungen ihre Umwelt beherrschten, schreibt der Autor. Der Machtkampf um Lebensraum und Ressourcen führte zur Katastrophe: Der Wolf wurde erbittert verfolgt, bis hin zur lokalen Ausrottung. Erst in den vergangenen Jahrzehnten geht es langsam wieder bergauf: Heute gibt es bis zu 20.000 Wölfe in Europa, 40.000 in Russland und 65.000 in Nordamerika. In Österreich wird das Thema sehr emotional diskutiert. Dabei wäre gerade hier eines der geeignetsten Siedlungsgebiete für Wölfe in Mitteleuropa: Es gäbe Platz für etwa 400 Rudel.

Auch wenn es selten zu Unfällen kommt, ist Kotrschal das Thema Sicherheit ein Anliegen. In den vergangenen 50 Jahren wurden vier Menschen in Europa und weitere vier in Russland Opfer von Wölfen, die keine Tollwut hatten. Damit das Zusammenleben funktioniert, gebe es folgende Grundsätze zu beachten: Wölfe müssen wild bleiben. Es ist gefährlich sie durch Anfüttern oder beständige Aufdringlichkeit an Menschen zu gewöhnen. Gutes Wildmanagement hat dafür zu sorgen, dass genug natürliche Beute zur Verfügung steht, was in Europa durchwegs der Fall ist. Das verhindert, dass die Raubtiere Nutztieren fressen. Wichtig ist auch das Erstellen von Notfallplänen, wenn sich die Tiere zu nahe am Menschen ansiedeln.

Parallelen zwischen Evolution von Wolf und Mensch

Auch die Beziehung zu den "freundlichen" Wölfen, den domestizierten Hunden, geht weiter. Allein in Österreich werden rund 700.000 Hunde gehalten. Ihnen widmet Kotrschal breiten Raum im Buch, ebenso der Mensch-Hund-Beziehung sowie den Problemen mit Rassehunden und der Hundehaltung.

In der Anfangsphase dienten Hunde als Wächter, Kämpfer im Krieg, Jagdgefährten oder einfach Abfallbeseitigern. Dabei kam es zu immer feineren Spezialisierungen. Kein anderes Haustier zeigt heute eine derartige Variationsbreite an Größe und Form, aber auch in seinen Leistungen: Vom zwei Kilo schweren Chihuahua über den schnarchenden Mops bis hin zum widerstandsfähigen Bernhardiner.

Eine verantwortungsvolle Hundezucht ist Kotrschal ein besonderes Anliegen. Einsicht sei notwendig, plädiert er. Zu oft seien Eitelkeit und Geld im Spiel. Eine Mehrzahl der Hunderassen würde noch immer nach Schönheitskriterien gezüchtet, die bei Ausstellungen prämiert werden. Dabei komme es auch zu sogenannten Qualzuchten. "Die einzige Möglichkeit für Menschen, sich böse, tierarzt- und kostenintensive Überraschungen in Form eines armen, kranken Hundes zu ersparen, besteht darin, sich nicht vom Aussehen einer Rasse blenden zu lassen", rät der Verhaltensforscher.

Hund statt Arzt

Wenn die Beziehung zwischen Mensch und Hund intakt ist, kann das sogar gesundheitsfördernde Wirkung haben. Das bestätigt die deutsche Psychologin und Mensch-Tier-Forscherin Andrea Beetz. Hunde motivieren zu gesundheitsfördernden Aktivitäten, strukturieren den Alltag älterer Menschen und wirken so gegen Depressionen. Der australische Gesundheitsökonom Bruce Headey führte Studien in China, Deutschland und Australien durch und zeigte, dass Menschen mit Hund zehn bis 20 Prozent weniger oft den Arzt aufsuchen. (Julia Schilly, derStandard.at, 12.10.2012)