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Autorin Ursula Krechel erhielt den Deutschen Buchpreis 2012.

Foto: APA/BORIS ROESSLER

"Von heut an stell ich meine alten Schuhe / nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten", schrieb Ursula Krechel 1977 in ihrem Gedicht Umsturz. Das ist gut gesagt und aufmüpfig gemeint. Doch auf eigene Lexikoneinträge im Buch der Gegenwartsliteratur kann Krechel, geboren 1947 in Trier, schon lange Anspruch erheben. Ihr Werk sprengt das Fassungsvermögen jeder noch so großzügig bemessenen Fußnote.

Der Deutsche Buchpreis 2012, Krechel für den Nachkriegsroman Landgericht zuerkannt, rückt eine Autorin des Übergangs ins Licht. Die Tochter eines Psychologen studierte an der Universität Köln Germanistik und Theaterwissenschaft. Sie promovierte mit einer Arbeit über den Theaterkritiker Herbert Jhering.

Ein bedeutsames Detail: In den kulturellen Tumulten der Weimarer Republik nahm Jhering eine fortschrittliche, stets prüfende und wägende Position ein. An ihm, dem Brecht-Freund, mag Krechel ihren Widerspruchsgeist geschult haben. Krechel-Texte sind, gleich ob sie lyrisch oder argumentativ daherkommen, Produkte sorgfältigster Arbeit. Sie verraten reifliche Überlegung und sicheren Stil.

"Es hat mich interessiert, dass in jede Erfolgsgeschichte - und man muss die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 als Erfolgsgeschichte beschreiben - auch Unglücke, Jammer, Misserfolg einbetoniert sind." Diese Worte der Dichterin über ihr Landgericht illustrieren gesellschaftliche Hellhörigkeit. In den frühen 1970er-Jahren arbeitete Krechel als Theaterdramaturgin. Sie widmete sich Projekten mit Untersuchungshäftlingen und entschied sich 1972, ihr Glück als freie Autorin zu versuchen.

Ihre zahllosen Gedichte und Hörspiele verraten Krechels Fähigkeit, die Verlautbarung als Phrase zu erkennen, jedem Satz einen verschwiegenen Sinn abzulauschen. Die heute in Berlin Lebende fand spät zur Roman-Form. Bereits in Shanghai fern von wo (2009) widmete sie sich dem Elend der Emigration. Für Landgericht begab sie sich nach Mainz und wühlte in Akten, spürte der Opfergeschichte eines jüdischen Richters nach, die unter staubigen Aktendeckeln begraben lag.

Aus ihr werde "keine klassische Romancière" werden, ließ Krechel noch vor kurzem verlauten. Heute steht sie, durchaus gefasst, im Scheinwerferlicht einer großen Öffentlichkeit. Sie habe einen "langen Schreibweg mit Höhen und Tiefen" hinter sich gebracht. Sie kann sich freuen: Er hat sie ans Ziel geführt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 10.10.2012)