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Die Rezession wurde unterschätzt: Olivier Blanchard.

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Grafik: DER STANDARD

Die Kritiker der Sparpolitik in Europa erhalten Unterstützung von ungewohnter Seite. Der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Olivier Blanchard, hat am Dienstag bekanntgegeben, dass die negativen Auswirkungen der Sparprogramme in Spanien, Griechenland, Italien und anderen Ländern systematisch unterschätzt wurden.

Blanchard präsentierte bei der Jahrestagung von Weltbank und Währungsfonds in Tokio eine Studie, in der die IWF-Ökonomen untersucht haben, warum die Wachstumsprognosen für die Schuldenländer seit 2010 nahezu im Monatsrhythmus nach unten korrigiert werden mussten. Dabei zeigt sich, dass Währungsfonds, EU-Kommission und OECD in ihren Rechenmodellen falsche Grundannahmen treffen.

Erklären lässt sich der Fehler am leichtesten mit einem Beispiel: EU und IWF gehen aufgrund historischer Erfahrungen in ihren Prognosen davon aus, dass jeder Euro, um den das Staatsdefizit gesenkt wird, die Wirtschaftskraft eines Landes um etwa 0,5 Euro schwächt. Tatsächlich dürfte dieser Wert zwei- bis dreimal höher sein. Ein eingesparter Euro senkt das Bruttoinlandsprodukt demnach um 0,9 bis 1,7 Euro. Je größer die Einsparungen, umso stärker macht sich die Diskrepanz zwischen den bisherigen Modellen und der Realität bemerkbar.

Warum die Berechnungsfehler? In früheren Krisen konnten die Notenbanken durch aggressive Zinssenkungen die Wirtschaft ankurbeln, sobald die Regierungen ihrerseits Ausgaben kürzten, wie Blanchard ausführte. Derzeit aber hätten die Zentralbanken wegen der Probleme im Bankensektor und der Schuldenkrise nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Hilfe. Der IWF-Chefökonom betonte in Tokio allerdings, dass die Südländer ihre Neuverschuldung trotzdem weiter abbauen sollten, "allerdings darf das weder zu schnell noch zu langsam geschehen."

Angst vor der Eurozone

Auch abseits der fehlerhaften Prognosen drehte sich bei der Tagung in Tokio fast alles um die Eurokrise. Deutlich zum Ausdruck kam die weltweit zunehmende Angst vor den Turbulenzen in Europa im neuen Finanzstabilitätsbericht des IWF. Der Report liest sich über weite Strecken wie eine große Warnung vor einem Zusammenbruch der Eurozone.

So lassen die Zahlen des IWF darauf schließen, dass es eigentlich bereits zwei Währungszonen in Europa gibt: Eine Südzone, aus der ständig Kapital abfließt, und eine im Norden, wo ständig Kapital zufließt. Die Mittelmeerländer kämpfen mit einer beispiellosen Kapitalflucht. Sparer und Investoren haben allein zwischen Juni 2011 und Juni 2012 286 Milliarden Euro aus Spanien und 235 Milliarden aus Italien abgezogen. Insgesamt ist aus den südlichen Eurostaaten seit Ende 2010 Kapital im Wert von zehn Prozent der Wirtschaftsleistung dieser Länder abgezogen worden. Das Geld wird vor allem in den nördlichen Euroländern angelegt.

Während private Investoren Spanien, Italien und Portugal meiden, sind es vor allem öffentliche Gläubiger aus den übrigen Euroländern und die Europäische Zentralbank, die als Kreditgeber einspringen. Diese Entwicklung hat zu einer dramatischen Umverteilung der Risiken geführt. Das Exposure öffentlicher Einrichtungen gegenüber den südlichen Peripherieländern Europas hat sich seit 2009 auf über 1300 Milliarden Euro gesteigert und damit mehr als verfünffacht.

Mangelnde Ausgestaltung der Union

Als einer der Gründe, weshalb die Kapitalflucht bisher nicht gestoppt werden konnte, wurde in Tokio immer wieder die mangelnde Ausgestaltung der Währungsunion angeführt. Europa habe zwar wichtige Fortschritte gemacht, etwa in Bezug auf die Schaffung einer gemeinsamen Bankenaufsicht Anfang 2013. Allerdings ist das in den Augen des Währungsfonds nicht genug.

Der IWF drängt darauf, eine gemeinsame Einlagensicherung in der Eurozone zu schaffen, im Extremfall müssten also deutsche und österreichische Banken für spanische und italienische Institute haften und umgekehrt. Die EU-Kommission hatte im September einen Vorschlag zur Vereinheitlichung der nationalen Einlagensicherungssysteme präsentiert, in dem recht allgemein davon die Rede war, dass die nationalen Fonds sich im Extremfall gegenseitig helfen sollten. Dieser Vorschlag geht laut Währungsfonds jedoch nicht weit genug, die EU-Kommission müsse rasch konkretere Vorschläge erarbeiten.

Durch die gemeinsame Einlagensicherung könne sich das Risiko für einzelne Länder zwar erhöhen, meinen die Experten des IWF. "Allerdings ist gemeinsames Tragen der finanziellen Risiken ein integrales Merkmal einer Währungsunion." (András Szigetvari, DER STANDARD, 10.10.2012)